»Er hasst Sie?«
»Ganz genau. Ich glaube, dass er deswegen zurück gezogen ist. Um seine letzten Jahre damit verbringen zu können, mich aus nächster Nähe zu hassen.«
»Warum hasst er Sie?«
»Weil ich geheiratet habe.«
»Ich glaube, das müssen Sie mir näher erklären.«
Henrik Vanger hatte schon früh den Kontakt zu seinen älteren Brüdern verloren. Er war der Einzige von ihnen, der einen gewissen Geschäftssinn an den Tag legte - die letzte Hoffnung seines Vaters. Er interessierte sich nicht für Politik und mied Uppsala. Stattdessen entschied er sich für ein Wirtschaftsstudium in Stockholm. Seit seinem achtzehnten Geburtstag hatte er alle Ferien und jeden Sommerurlaub als Praktikant in einem der vielen Büros des Vanger-Konzerns verbracht.
Am 10. Juni 1941 - während des Zweiten Weltkriegs - wurde Henrik für sechs Wochen zu einem Besuch des Hamburger Handelsbüros nach Deutschland geschickt. Er war damals erst einundzwanzig Jahre alt, und man stellte ihm den deutschen Agenten des Unternehmens, einen alternden Firmenveteran namens Hermann Lobach, als Aufpasser und Mentor zur Seite.
»Ich will Sie nicht mit all den Details langweilen, aber als ich kam, waren Hitler und Stalin noch gute Freunde, und es gab keine Ostfront. Alle hielten Hitler immer noch für unbesiegbar. Das war so ein Gefühl von … Optimismus und Verzweiflung sind vielleicht die richtigen Worte, denke ich. Mehr als ein halbes Jahrhundert danach ist es immer noch schwer, die Stimmung zu beschreiben. Missverstehen Sie mich nicht, ich war nie ein Nazi, und Hitler wirkte in meinen Augen wie eine lächerliche Operettenfigur. Aber es war schwierig, sich nicht von dem allgemeinen Optimismus anstecken zu lassen, der in Hamburg unter den ganz normalen Leuten herrschte. Obwohl der Krieg immer näher rückte und während meines Aufenthalts mehrere Bombenangriffe auf Hamburg geflogen wurden, glaubten die meisten Menschen weiterhin, dass bald der Frieden kommen und Hitler sein neues Europa errichten würde.«
Henrik Vanger schlug eines seiner vielen Fotoalben auf.
»Das ist Hermann Lobach. Er verschwand 1944, ist vermutlich bei irgendeinem Bombenangriff umgekommen und unter den Trümmern begraben worden. Wir haben nie erfahren, was mit ihm geschah. Während meiner Wochen in Hamburg freundeten wir uns an. Ich war bei ihm und seiner Familie untergebracht, in einer vornehmen Wohnung in einem Hamburger Nobelviertel. Wir hatten täglich miteinander zu tun. Er war genauso wenig ein Nazi wie ich, aber er war aus Bequemlichkeit Mitglied in der Partei. Der Mitgliedsausweis öffnete Türen und erleichterte es ihm, Geschäfte für den Vanger-Konzern zu machen - und Geschäfte machten wir, oh ja. Wir bauten Güterwagen für ihre Züge. Ich habe mich immer gefragt, ob unsere Waggons nach Polen gingen. Wir verkauften Stoff für ihre Uniformen und Röhren für ihre Radios, obwohl wir ja offiziell nicht wussten, wofür sie unsere Produkte verwendeten. Und Hermann Lobach wusste, wie man einen Vertrag an Land zieht, er war unterhaltsam und gesellig. Der perfekte Nazi. Im Nachhinein dämmerte mir, dass er auch ein Mann war, der verzweifelt versuchte, ein Geheimnis zu verbergen.
In der Nacht zum 22. Juni 1941 klopfte Hermann Lobach plötzlich an die Tür meines Schlafzimmers. Mein Raum lag direkt neben dem Schlafzimmer seiner Frau, und er bedeutete mir, leise zu sein, mich anzuziehen und ihm zu folgen. Wir gingen ein Stockwerk tiefer und setzten uns in den Rauchsalon. Offensichtlich war Lobach die ganze Nacht auf gewesen. Das Radio lief, und ich begriff, dass irgendetwas Dramatisches passiert sein musste. Das ›Unternehmen Barbarossa‹ hatte begonnen. Deutschland hatte in der Mittsommernacht die Sowjetunion überfallen.«
Henrik Vanger machte eine resignierte Handbewegung.
»Hermann Lobach holte zwei Gläser und goss uns einen ordentlichen Schnaps ein. Er war sichtlich erschüttert. Als ich ihn fragte, was das bedeutete, antwortete er mit großem Weitblick, dies sei das Ende für Deutschland und den Nationalsozialismus. Ich glaubte es ihm nur halbwegs - Hitler schien schließlich unbesiegbar -, aber Lobach prostete mir zu: auf Deutschlands Untergang. Dann wandte er sich den praktischen Dingen zu.«
Mikael nickte, um zu signalisieren, dass er aufmerksam zuhörte.
»Zum einen hatte er keine Möglichkeit, mit meinem Vater Kontakt aufzunehmen. So beschloss er auf eigene Verantwortung, meinen Besuch in Deutschland abzubrechen und mich bei der ersten Gelegenheit wieder heimzuschicken. Zum anderen wollte er mich um einen Gefallen bitten.«
Henrik Vanger zeigte auf ein vergilbtes, abgestoßenes Foto von einer dunkelhaarigen Frau im Halbprofil.
»Hermann Lobach war seit vierzig Jahren verheiratet, aber 1919 begegnete er einer umwerfend schönen Frau, in die er sich unsterblich verliebte. Sie war eine einfache, arme Schneiderin und nur halb so alt wie er. Lobach machte ihr den Hof, und wie so viele andere wohlhabende Männer konnte er es sich leisten, sie in einer Wohnung in bequemem Abstand zu seinem Büro unterzubringen. Sie wurde seine Geliebte. 1921 gebar sie ihm eine Tochter, die auf den Namen Edith getauft wurde.«
»Älterer reicher Mann, junge arme Frau und ein Kind der Liebe - das dürfte nicht mal in den vierziger Jahren wirklich zum Skandal gereicht haben«, kommentierte Mikael.
»Das stimmt schon. Aber da war noch etwas. Die Frau war Jüdin und Lobach damit Vater einer jüdischen Tochter mitten in Nazideutschland. Er hatte praktisch seine Rasse verraten.«
»Oh, das verändert die Situation zweifellos. Was geschah weiter?«
»Ediths Mutter wurde 1939 verhaftet. Sie verschwand, und wir können nur mutmaßen, wie ihr Schicksal aussah. Es war bekannt, dass sie eine Tochter hatte, die noch auf keiner Deportationsliste stand und nun von der Abteilung der Gestapo gesucht wurde, die flüchtige Juden verfolgte. Im Sommer 1941, in derselben Woche, als ich in Hamburg ankam, war Ediths Mutter mit Hermann Lobach in Verbindung gebracht worden, und man bestellte ihn zum Verhör. Er gab das Verhältnis und seine Vaterschaft zu, behauptete aber, er habe keine Ahnung, wo sich seine Tochter aufhalte. Er habe zehn Jahre keinen Kontakt mit ihr gehabt.«
»Und wo war seine Tochter?«
»Ich bin ihr jeden Tag in Lobachs Wohnung begegnet. Ein nettes, stilles zwanzigjähriges Mädchen, das mein Zimmer sauber machte und beim Auftragen des Abendessens half. 1937 war die Judenverfolgung schon ein paar Jahre im Gange, und Ediths Mutter hatte Lobach um Hilfe angefleht. Und er hatte ihr tatsächlich geholfen - Lobach liebte seine uneheliche Tochter genauso wie seine ehelichen Kinder. Er hatte sie an der unwahrscheinlichsten Stelle überhaupt versteckt, indem er sie seiner Umgebung direkt vor die Nase setzte. Er hatte ihr falsche Papiere verschafft und sie als Haushälterin angestellt.«
»Wusste seine Frau davon?«
»Nein, sie hatte keine Ahnung von diesem Arrangement.«
»Was passierte dann?«
»Vier Jahre lang ging es gut, aber Lobach merkte, wie die Schlinge sich langsam zuzog. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Gestapo an seine Tür klopfen würde. All das erzählte er mir in dieser Nacht, nur eine Woche vor meiner Heimfahrt nach Schweden. Dann holte er seine Tochter und stellte uns einander vor. Sie war still und blass und wagte mir kaum in die Augen zu sehen. Lobach flehte mich an, ihr Leben zu retten.«
»Wie?«
»Er hatte alles vorbereitet. Eigentlich sollte ich noch drei Wochen bleiben, dann mit dem Nachtzug nach Kopenhagen fahren und die Fähre über den Sund nehmen - auch in Kriegszeiten eine relativ ungefährliche Reise. Doch zwei Tage nach unserer Unterredung sollte ein Frachtschiff des Vanger-Konzerns aus Hamburg Richtung Schweden ablegen. Lobach wollte mich nun mit diesem Schiff schicken, auf direktem Weg hinaus aus Deutschland. Die Änderungen der Reisepläne mussten vom Sicherheitsdienst abgesegnet werden, eine bürokratische Maßnahme, aber kein Problem. Lobach wollte jedenfalls, dass ich mit dem Schiff fuhr.«
»Zusammen mit Edith, nehme ich an.«
»Edith wurde in einer von dreihundert Kisten mit Maschinenteilen an Bord geschmuggelt. Für den Fall, dass sie entdeckt werden sollte, während wir uns noch in deutschen Hoheitsgewässern befanden, sollte ich sie beschützen und den Kapitän davon abhalten, Dummheiten zu machen. Ansonsten sollte ich warten, bis wir ein gutes Stück von Deutschland entfernt waren, und sie dann aus ihrem Versteck befreien.«