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»Ich verstehe.«

»Es klang einfach, aber die Reise geriet zum Alptraum. Der Kapitän hieß Oskar Granath, und er war alles andere als begeistert davon, die Verantwortung für einen Erben seines Arbeitgebers übernehmen zu müssen. Wir legten eines Abends Ende Juni gegen neun Uhr ab und waren gerade auf dem Weg aus dem Binnenhafen, da begannen die Sirenen zu heulen: Bombenalarm. Ein englischer Bombenangriff, der heftigste, den ich erlebt hatte, und der Hafen war natürlich ein bevorzugtes Ziel. Ich übertreibe nicht, wenn ich Ihnen erzähle, dass ich mir fast in die Hosen machte, als die Detonationen immer näher kamen. Aber irgendwie schafften wir es, und nach einem Motorschaden und einer wüsten Sturmnacht in minenverseuchtem Gewässer liefen wir am nächsten Tag in Karlskrona ein. Jetzt wollen Sie von mir wissen, was mit dem Mädchen geschah.«

»Ich glaube, ich weiß es schon.«

»Mein Vater tobte natürlich vor Wut. Ich hatte durch mein idiotisches Unterfangen alles aufs Spiel gesetzt. Und das Mädchen konnte jederzeit deportiert werden - vergessen Sie nicht, wir schrieben das Jahr 1941. Aber zu diesem Zeitpunkt hatte ich mich bereits unsterblich in sie verliebt, wie Lobach in ihre Mutter. Ich fragte sie, ob sie meine Frau werden wollte, und stellte meinem Vater ein Ultimatum - entweder er akzeptierte die Ehe, oder er musste sich anderweitig nach Nachwuchs fürs Familienunternehmen umsehen. Er gab nach.«

»Sie starb?«

»Ja, viel zu jung. 1958 schon. Wir hatten knapp sechzehn Jahre miteinander. Sie hatte einen angeborenen Herzfehler. Und es stellte sich heraus, dass sie keine Kinder bekommen konnte. Deswegen hasst mich mein Bruder.«

»Weil Sie sie geheiratet haben.«

»Weil ich - um seine Terminologie zu verwenden - eine dreckige Judenhure geheiratet habe. Für ihn war das Verrat an der Rasse, dem Volksstamm, der Moral und eben all dem, wofür er stand.«

»Das ist doch verrückt.«

»Ich selbst könnte es nicht besser ausdrücken.«

10. Kapitel

Donnerstag, 9. Januar - Freitag, 31. Januar

Wenn man dem Hedestads-Kuriren glaubte, dann war Mikaels erster Monat in der Einöde der kälteste seit Menschengedenken oder (wie Henrik Vanger ihn aufklärte) zumindest seit dem Kriegswinter 1942. Bereits nach einer Woche in Hedeby hatte er alles über lange Unterhosen, dicke Socken und doppelte Unterhemden gelernt.

Er erlebte ein paar grauenvolle Tage, als die Temperatur Mitte Januar auf unfassbare 37 Grad minus fiel. Eines Morgens war die Wasserleitung eingefroren. Gunnar Nilsson hatte ihm zwei große Plastikeimer gegeben, damit er Essen kochen und sich waschen konnte, aber die Kälte war einfach lähmend. An der Innenseite der Fensterscheiben hatten sich Eisblumen gebildet, und so viel er auch heizte, er fühlte sich permanent durchgefroren. Jeden Tag verbrachte er ein gutes Weilchen damit, hinter dem Schuppen Brennholz zu hacken.

Manchmal war er den Tränen nahe und spielte mit dem Gedanken, ein Taxi in die Stadt zu nehmen und dort den ersten Zug in Richtung Süden zu besteigen. Stattdessen zog er sich einen zusätzlichen Pullover an und wickelte sich in eine Decke, während er Kaffee trinkend am Küchentisch saß und alte Polizeiprotokolle las.

Allmählich stieg die Temperatur auf behagliche 10 Grad minus.

Langsam lernte Mikael auch Leute in Hedeby kennen. Martin Vanger hatte sein Versprechen gehalten und ihn zu einem eigenhändig zubereiteten Abendessen eingeladen - Elchsteak mit italienischem Rotwein. Er war unverheiratet, aber mit einer Frau namens Eva Hassel befreundet, die ihnen beim Abendessen Gesellschaft leistete. Eva war warmherzig und unterhaltsam und gehörte zu dem Typ Frau, den Mikael als außerordentlich attraktiv betrachtete. Sie war Zahnärztin und wohnte in Hedestad, verbrachte die Wochenenden aber bei Martin Vanger. Mikael erfuhr später, dass die beiden sich schon seit vielen Jahren kannten, aber sie waren sich erst mit der Zeit nähergekommen und hatten keine Veranlassung gesehen zu heiraten.

»Sie ist schließlich meine Zahnärztin«, lachte Martin Vanger.

»Und in diesen verrückten Clan einzuheiraten, ist nicht so wirklich mein Ding«, sagte Eva und tätschelte Martin liebevoll das Knie.

Martins Haus war ein von einem Architekten entworfener Junggesellentraum mit Möbeln in Schwarz, Weiß und Chrom. Die Einrichtung bestand aus ausgesuchten Stücken, die den Designfan Christer Malm fasziniert hätten. Die Küche war ausgestattet wie für einen Berufskoch. Im Wohnzimmer befand sich eine erstklassige Stereoanlage sowie eine großartige Jazzsammlung auf Vinyl, die von Tommy Dorsey bis zu Johnny Coltrane reichte. Martin Vanger hatte Geld, und sein Zuhause war kostspielig und funktionell, aber auch ziemlich unpersönlich. Mikael bemerkte, dass die Bilder an den Wänden einfache Reproduktionen und Poster waren, wie man sie auch bei IKEA finden konnte - hübsch, aber keine Renommierstücke. Die Bücherregale, zumindest in dem Teil des Hauses, den Mikael zu sehen bekam, waren nur dünn bestückt, unter anderem mit einem mehrbändigen Lexikon und ein paar Büchern von der Sorte, wie Leute sie zu Weihnachten verschenken, wenn ihnen nichts Besseres einfällt. Mikael konnte zwei Interessen in Martin Vangers Leben ausmachen: Musik und Kochen. Das erste Interessengebiet manifestierte sich in schätzungsweise dreitausend LPs. Das andere zeichnete sich in der Rundung über Martins Gürtel ab.

Die Person Martin Vanger war eine eigenartige Mischung aus Einfalt, Strenge und Liebenswürdigkeit. Man musste über keine besonderen analytischen Fähigkeiten verfügen, um zu dem Schluss zu kommen, dass er ein Mensch mit Problemen war. Während A Night in Tunisia lief, kreiste das Gespräch um den Vanger-Konzern, und Martin Vanger machte kein Geheimnis daraus, dass er um den Erhalt der Firma kämpfte. Mikael wunderte sich über diese Themenwahl, denn Martin Vanger war sich durchaus bewusst, dass er einen Wirtschaftsjournalisten zu Gast hatte, den er nur oberflächlich kannte. Dennoch diskutierte er die internen Probleme seiner Firma so offenherzig mit ihm, dass es schon an Fahrlässigkeit grenzte. Er schien davon auszugehen, dass Mikael zur Familie gehörte, da er für Henrik Vanger arbeitete, und er stimmte mit seinem Großonkel darin überein, dass die Familie sich selbst die Schuld geben musste an der Verfassung, in der sich das Unternehmen befand. Er war jedoch frei von Henriks Bitterkeit und dessen unversöhnlicher Verachtung für die Familie. Martin Vanger schien sich über die unverbesserliche Verrücktheit des Vanger-Clans eher zu amüsieren. Eva Hassel nickte, gab aber keine Kommentare ab. Sie kannte das Thema offenbar zur Genüge.

Martin Vanger schien zu billigen, dass Mikael beauftragt worden war, eine Familienchronik zu schreiben, und er fragte, wie die Arbeit voranginge. Mikael antwortete lächelnd, er tue sich schon schwer, die Namen aller Verwandten zu lernen, und bat um Erlaubnis, für ein Interview wiederkommen zu dürfen, sobald es Martin passte. Mehrmals erwog er, das Gespräch auf Henriks Besessenheit von Harriets Verschwinden zu lenken. Er nahm an, dass Henrik Vanger Harriets Bruder bei verschiedensten Gelegenheiten mit seinen Theorien gequält hatte. Außerdem musste Martin klar sein, dass Mikael beim Schreiben einer Familienchronik bemerken musste, dass ein Familienmitglied spurlos verschwunden war. Aber Martin machte keine Anstalten, das Thema aufzugreifen, und Mikael ließ die Sache auf sich beruhen. Sie würden noch früh genug Grund haben, über Harriet zu reden.

Nach ein paar Runden Wodka brach er gegen zwei Uhr morgens auf. Mikael war ziemlich betrunken, als er die dreihundert Meter zu sich nach Hause torkelte. Im Großen und Ganzen war es ein angenehmer Abend gewesen.