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Eines Nachmittags, es war bereits Mikaels zweite Woche in Hedeby, klopfte es an seiner Haustür. Er legte den Ordner mit dem Polizeibericht beiseite und schloss die Tür zu seinem Arbeitszimmer, bevor er die Haustür öffnete. Vor ihm stand eine in warme Kleider gehüllte blonde Frau, die ungefähr Mitte fünfzig sein mochte.

»Hallo. Ich wollte nur mal guten Tag sagen. Ich heiße Cecilia Vanger.«

Sie gaben sich die Hand, und Mikael bot ihr einen Kaffee an. Cecilia Vanger, die Tochter des Nazi-Anhängers Harald Vanger, schien eine offene und in vielerlei Hinsicht sehr einnehmende Frau zu sein. Mikael erinnerte sich, dass Henrik Vanger mit Respekt über sie gesprochen und erwähnt hatte, dass sie keinen Umgang mit ihrem Vater pflegte, obwohl sie neben ihm wohnte. Sie plauderten eine Weile, bis sie auf ihr Anliegen zu sprechen kam.

»Ich habe gehört, dass Sie ein Buch über die Familie schreiben. Ich bin mir nicht sicher, ob mir dieser Gedanke gefällt«, sagte sie. »Deshalb wollte ich mir zumindest mal ansehen, was Sie für einer sind.«

»Das ist richtig, Henrik Vanger hat mich damit beauftragt. Es ist also sozusagen seine Story.«

»Der gute Henrik ist ja nicht gerade neutral, was die Einstellung zu seiner Familie betrifft.«

Mikael musterte sie. Er wusste nicht recht, was sie eigentlich sagen wollte.

»Sind Sie dagegen, dass ein Buch über die Familie Vanger geschrieben wird?«

»Das habe ich nicht gesagt. Und was ich denke, spielt sowieso keine Rolle. Aber ich glaube, dass Sie vielleicht schon dahintergekommen sind, dass es nicht immer so leicht gewesen ist, Mitglied dieser Familie zu sein.«

Mikael hatte keine Ahnung, was Henrik gesagt hatte oder wie viel Cecilia über seinen Auftrag wusste. Er zuckte mit den Achseln.

»Ich habe mit Henrik vereinbart, dass ich eine Familienchronik schreiben werde. Er hat in der Tat sehr eigene Ansichten über manche Familienmitglieder, aber ich werde mich an das halten, was ich auch dokumentieren kann.«

Cecilia lächelte kühl.

»Ich will nur wissen, ob ich ins Exil gehen und emigrieren muss, wenn das Buch rauskommt?«

»Das glaube ich nicht«, erwiderte Mikael. »Die Leute werden sich schon ein differenziertes Urteil bilden können.«

»Zum Beispiel über meinen Vater.«

»Ihren Vater, den Nazi?«, fragte Mikael. Cecilia Vanger verdrehte die Augen.

»Mein Vater ist verrückt. Ich treffe ihn nur ein paarmal im Jahr, obwohl wir quasi Wand an Wand wohnen.«

»Warum wollen Sie ihn nicht treffen?«

»Warten Sie, bevor Sie mir jede Menge Fragen stellen - haben Sie vor, mich zu zitieren? Oder kann ich ein normales Gespräch mit Ihnen führen, ohne eine öffentliche Blamage befürchten zu müssen?«

Mikael zögerte und überlegte, wie er seine Antwort am besten formulieren sollte.

»Ich habe den Auftrag, ein Buch zu schreiben, das mit Alexandre Vangeersad beginnt und bis in die Gegenwart reicht. Es wird das Familienimperium über mehrere Jahrzehnte darstellen, aber auch behandeln, warum sich dieses Imperium in der Krise befindet und was für Differenzen es innerhalb der Familie gibt. Es wird unvermeidbar sein, dass dabei auch unangenehme Dinge zur Sprache kommen. Aber das heißt nicht, dass ich ein einseitiges oder hassverzerrtes Bild der Familie entwerfen werde. Ich habe zum Beispiel Martin Vanger als sympathischen Menschen kennengelernt, und so werde ich ihn auch beschreiben.«

Cecilia Vanger schwieg.

»Was ich über Sie weiß, ist, dass Sie Lehrerin sind …«

»Es ist sogar noch schlimmer: Ich bin Rektorin am Gymnasium von Hedestad.«

»Verzeihung. Ich weiß, dass Henrik Vanger Sie mag, dass Sie verheiratet sind, aber in Trennung leben … und das war’s dann auch schon. Sie können mit mir reden, ohne fürchten zu müssen, zitiert oder blamiert zu werden. Aber ich werde sicher eines Tages an Ihre Tür klopfen und Sie um ein richtiges Interview bitten. Dann können Sie sich aussuchen, auf welche Fragen Sie antworten wollen und auf welche nicht.«

»Ich kann also … off the record mit Ihnen reden, wie Sie das nennen.«

»Ja, natürlich.«

»Und das hier ist gerade off the record

»Sie sind nur eine Nachbarin, die rübergekommen ist, um Hallo zu sagen und eine Tasse Kaffee zu trinken, weiter nichts.«

»Okay. Dann darf ich Sie jetzt mal was fragen?«

»Nur zu.«

»Inwieweit wird dieses Buch von Harriet Vanger handeln?«

Mikael biss sich auf die Unterlippe und zögerte. Er schlug einen ungezwungenen Ton an.

»Ehrlich gesagt, ich habe keine Ahnung. Natürlich kann das leicht ein ganzes Kapitel einnehmen. Es ist ja unbestreitbar ein dramatisches Ereignis.«

»Aber Sie sind nicht hier, um ihr Verschwinden zu untersuchen?«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Weil Gunnar Nilsson vier Umzugskartons hier reingeschleppt hat. Das müsste so ungefähr Henriks Sammlung privater Ermittlungsergebnisse entsprechen. Und als ich einen kurzen Blick in Harriets Zimmer warf, wo Henrik die Akten normalerweise verwahrt, waren sie verschwunden.«

Cecilia Vanger war nicht auf den Kopf gefallen.

»Das müssen Sie wirklich mit Henrik besprechen, nicht mit mir«, sagte Mikael. »Aber Henrik hat mir natürlich so einiges über Harriets Verschwinden erzählt, und ich finde es interessant, das Material zu lesen.«

Cecilia Vanger lächelte freudlos.

»Manchmal frage ich mich, wer verrückter ist, mein Vater oder mein Onkel. Ich habe Harriets Verschwinden wohl tausend Mal mit ihm durchdiskutiert.«

»Was glauben Sie, was mit ihr passiert ist?«

»Ist das eine Interviewfrage?«

»Nein«, lachte Mikael. »Reine Neugier.«

»Und ich bin neugierig zu erfahren, ob auch Sie ein Dummkopf sind. Ob Sie Henrik seine Argumentation abgekauft haben oder ob Sie ihn an der Nase herumführen.«

»Sie halten Henrik für einen Dummkopf?«

»Missverstehen Sie mich nicht. Henrik ist einer der warmherzigsten und fürsorglichsten Menschen, die ich kenne. Ich mag ihn sehr gern. Aber in dieser einen Sache ist er wie besessen.«

»Die Besessenheit hat doch einen realen Grund. Harriet ist wirklich verschwunden.«

»Ich habe die ganze Geschichte nur so wahnsinnig satt. Sie hat unser Leben über viele Jahre hinweg vergiftet, und sie nimmt niemals ein Ende.« Sie stand plötzlich auf und schlüpfte in ihre Pelzjacke. »Ich muss gehen. Sie machen einen netten Eindruck. Das findet Martin übrigens auch, aber auf sein Urteil ist nicht unbedingt immer Verlass. Wenn Sie Lust haben, können Sie gerne einmal zu mir auf einen Kaffee vorbeikommen. Abends bin ich fast immer zu Hause.«

»Danke«, sagte Mikael. Als sie zur Haustür ging, rief er ihr nach: »Sie haben mir nicht auf die Frage geantwortet, die keine Interviewfrage war.«

Sie zögerte eine Sekunde an der Tür und antwortete dann, ohne ihn anzusehen: »Ich habe keine Ahnung, was mit Harriet passiert ist. Aber ich glaube, dass es ein Unfall war, der sich so einfach und banal erklären lässt, dass wir völlig verblüfft sein werden, wenn wir irgendwann einmal die Antwort erfahren sollten.«

Sie drehte sich um und lächelte ihn an, zum ersten Mal mit einer gewissen Wärme. Dann winkte sie ihm zu und verschwand. Mikael saß reglos am Küchentisch und dachte darüber nach, dass auch Cecilias Namen in Fettdruck auf seiner Darstellung der Familienmitglieder stand, sie sich also auch auf der Insel befunden hatte, als Harriet verschwand.

War Cecilia Vanger im Großen und Ganzen eine angenehme Bekanntschaft zu nennen, so galt das nicht für Isabella Vanger. Harriets Mutter war fünfundsiebzig Jahre alt und, wie Henrik Vanger ihn gewarnt hatte, eine ungeheuer elegante Frau, die entfernt an eine alternde Lauren Bacall erinnerte. Sie war zierlich, trug einen schwarzen Persianer sowie eine schwarze Pelzmütze und stützte sich auf einen schwarzen Stock, als Mikael ihr eines Morgens über den Weg lief. Er hatte gerade sein Haus verlassen wollen, um in Susannes Café zu gehen. Sie sah aus wie ein alternder Vamp, immer noch bildschön, aber die reinste Giftschlange. Isabella Vanger kehrte anscheinend gerade von einem Spaziergang zurück und rief von der Kreuzung aus nach ihm.