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»Hallo, Sie, junger Mann! Kommen Sie doch mal her!«

Der Befehlston war unmissverständlich. Mikael sah sich um und folgerte, dass er gemeint war. Er ging zu ihr.

»Ich bin Isabella Vanger«, verkündete sie.

»Hallo, ich heiße Mikael Blomkvist.« Er streckte ihr die Hand hin, die sie ignorierte.

»Sind Sie dieser Mensch, der in unseren Familienangelegenheiten herumschnüffelt?«

»Na ja, ich bin der Mensch, den Henrik Vanger engagiert hat, um ihm bei der Biografie der Familie Vanger behilflich zu sein.«

»Damit haben Sie nichts zu schaffen.«

»Stört es Sie, dass Henrik mich engagiert hat oder dass ich Ja gesagt habe? Im ersteren Fall meine ich, dass es Henriks Sache ist, und im letzteren, dass die Entscheidung bei mir liegt.«

»Sie wissen genau, was ich meine. Ich mag keine Leute, die in meinem Leben herumschnüffeln.«

»In Ordnung, ich werde nicht in Ihrem Leben herumschnüffeln. Den Rest müssen Sie mit Henrik Vanger besprechen.«

Isabella Vanger hob plötzlich ihren Gehstock und stieß Mikael mit dem Handgriff vor die Brust. Der Schlag war nicht nennenswert, aber er trat verblüfft einen Schritt zurück.

»Halten Sie sich von mir fern.«

Isabella Vanger drehte sich auf dem Absatz um und ging zu ihrem Haus. Mikael blieb mit einem verdutzten Gesichtsausdruck stehen. Als er den Blick hob, sah er plötzlich Henrik Vanger am Fenster seines Arbeitszimmers stehen. Er hatte eine Kaffeetasse in der Hand, mit der er ihm ironisch zuprostete. Mikael zuckte resigniert mit den Achseln, schüttelte den Kopf und ging zu Susannes Café.

Die einzige Reise, die Mikael während des ersten Monats unternahm, war ein Tagesausflug zu einer Bucht des Siljan-Sees. Er lieh sich Dirch Frodes Mercedes aus und fuhr durch die Schneelandschaft, um einen Nachmittag mit Kommissar Gustav Morell zu verbringen.

Mikael hatte versucht, sich mittels des polizeilichen Untersuchungsberichts ein Bild von Morell zu machen. Als er vor ihm stand, fand er sich einem sehnigen Mann gegenüber, der sich langsam bewegte und noch langsamer sprach.

Mikael hatte sich zehn Fragen notiert, die ihm während der Lektüre des Untersuchungsberichts gekommen waren. Morell antwortete wie ein Pädagoge auf jede Frage. Zum Schluss legte Mikael seine Notizen beiseite und erklärte Morell, seine Fragen seien nur ein Vorwand gewesen, um hierherzukommen und den pensionierten Kommissar zu treffen. Eigentlich habe er mit ihm plaudern und die einzige wesentliche Frage stellen wollen: »Gibt es irgendetwas in den Ermittlungen, das Sie nicht auf Papier festgehalten haben - eine Idee oder eine Überlegung oder ein intuitives Gefühl, das Sie mir mitteilen könnten?«

Da Morell sechsunddreißig Jahre damit zugebracht hatte, über das Mysterium von Harriets Verschwinden nachzudenken, hatte Mikael erwartet, auf einen gewissen Widerstand zu stoßen. Schließlich war er der Neue, der hier aufkreuzte und in dem Dickicht herumstocherte, in dem sich Morell verirrt hatte. Aber da war nicht einmal der Ansatz eines Vorbehalts. Morell stopfte sich sorgfältig seine Pfeife und riss ein Streichholz an, bevor er antwortete.

»Doch, natürlich habe ich gewisse Gedanken. Aber die sind derart vage und flüchtig, dass ich sie nicht so recht formulieren kann.«

»Was glauben Sie, was mit Harriet passiert ist?«

»Ich glaube, dass sie ermordet wurde. Darin bin ich mir mit Henrik einig. Es ist die einzig logische Erklärung. Aber das Motiv ist uns nie klar geworden. Ich glaube, dass sie aus einem ganz bestimmten Grund ermordet wurde - keine Wahnsinnstat oder Vergewaltigung oder so etwas. Würden wir das Motiv kennen, wüssten wir auch, wer sie umgebracht hat.«

Morell überlegte kurz.

»Der Mord kann spontan begangen worden sein. Damit meine ich, dass jemand im Chaos nach dem Unfall die Gelegenheit beim Schopf ergriff. Der Mörder versteckte die Leiche und schaffte sie später fort, während wir die Gegend nach ihr absuchten.«

»Sie sprechen von einem eiskalten Menschen.«

»Es gibt da noch ein Detail. Harriet kam in Henriks Zimmer und wollte mit ihm reden. Im Nachhinein sieht mir das bemerkenswert aus. Sie wusste sehr gut, dass er alle Hände voll zu tun hatte mit all den Verwandten, die sich auf dem Hof befanden. Ich glaube, Harriet stellte für irgendjemand eine Bedrohung dar. Sie wollte Henrik etwas erzählen, und dem Mörder war klar, dass sie … tja, dass sie etwas ausplaudern würde.«

»Henrik war mit ein paar Familienmitgliedern beschäftigt …«

»Außer Henrik waren noch vier Personen im Zimmer: sein Bruder Greger, der Sohn einer Kusine namens Magnus Sjögren sowie Harald Vangers Kinder, Birger und Cecilia. Aber das hat nichts zu sagen. Nehmen wir mal an, Harriet hätte entdeckt, dass jemand Firmengelder veruntreut hat, dann kann sie das monatelang gewusst und sogar mit dem Betreffenden darüber gesprochen haben. Vielleicht hat sie versucht, ihn zu erpressen, oder sie hat Mitleid mit ihm gehabt und den Entschluss hinausgezögert, ihn auffliegen zu lassen. Möglicherweise hat sie damit gedroht, worauf der Täter sie in seiner Verzweiflung erschlug.«

»Sie gehen von einem männlichen Täter aus?«

»Rein statistisch gesehen sind die meisten Mörder Männer. Aber natürlich, in der Familie Vanger gibt es ein paar Weiber, das sind die reinsten Besen.«

»Ich habe Isabella kennengelernt.«

»Sie ist eine von ihnen. Aber es gibt noch mehr. Cecilia Vanger kann richtig knallhart sein. Und sind Sie Sara Sjögren schon begegnet?«

Mikael schüttelte den Kopf.

»Sie ist die Tochter von Sofia Vanger, einer von Henriks Kusinen. Eine richtig unangenehme und rücksichtslose Frau. Aber sie wohnte in Malmö und hatte kein Motiv, Harriet zu töten, soviel ich herausfinden konnte.«

»Okay.«

»Doch wie wir das Ganze auch drehen und wenden, wir sind nie so richtig hinter das Motiv gekommen.«

»Sie haben intensiv an diesem Fall gearbeitet. Gibt es irgendetwas, das Sie nicht weiterverfolgt haben?«

»Nein, Mikael. Ich habe diesem Fall unendlich viel Zeit gewidmet, und ich wüsste nicht, was ich nicht so weit verfolgt hätte, wie es nur irgend ging. Auch als ich befördert wurde und aus Hedestad wegzog.«

»Wegzog?«

»Ja, ich bin ursprünglich nicht aus Hedestad. Ich arbeitete dort von 1963 bis 1968. Danach wurde ich Kommissar und ging nach Gävle, wo ich den Rest meiner Karriere blieb. Aber auch in Gävle stellte ich noch weitere Untersuchungen im Fall Harriet an.«

»Henrik Vanger ließ nicht locker, nehme ich an.«

»Das stimmt. Aber es war nicht deswegen. Das Rätsel um Harriet fasziniert mich noch heute. Ich meine … Sie müssen das so sehen: Jeder Polizist hat sein eigenes ungelöstes Rätsel. Ich erinnere mich an meine Zeit in Hedestad, als die älteren Kollegen im Pausenraum immer über den Fall Rebecka sprachen. Besonders ein Polizist, Torstensson - er ist seit vielen Jahren tot -, kehrte Jahr für Jahr immer wieder zu diesem Fall zurück. In seiner Freizeit und im Urlaub. Wenn auf dem Revier in Hedestad mal Flaute herrschte, zog er stets die Ordner wieder hervor und grübelte.«

»Ging es auch um ein verschwundenes Mädchen?«

Kommissar Morell sah einen Moment lang völlig verblüfft aus. Dann lächelte er, als er begriff, dass Mikael irgendeine Verbindung zwischen den beiden Fällen suchte.

»Oh, ich habe das nicht aus diesem Grund aufs Tapet gebracht. Ich spreche von der Seele eines Polizisten. Der Fall Rebecka ereignete sich, bevor Harriet Vanger auf der Welt war, und ist schon lange verjährt. Irgendwann in den vierziger Jahren wurde eine Frau in Hedestad überfallen, vergewaltigt und umgebracht. Das ist nichts Ungewöhnliches. Jeder Polizist muss irgendwann in seiner Laufbahn in so einem Fall ermitteln. Ich will damit sagen, dass es oft einen Fall gibt, der die Ermittler nicht loslässt und ihnen unter die Haut geht. Das Mädchen wurde auf brutalste Weise ermordet. Der Mörder hatte sie gefesselt und ihren Kopf auf die glimmenden Kohlen eines offenen Kamins gelegt. Ich weiß nicht, wie lange es gedauert haben mag, bis das arme Mädchen starb, und welche Qualen sie durchgemacht hat.«