Mikael staunte. Die Kommentare waren lustig, aber so locker und entspannt hatte er Henrik Vanger noch nie erlebt. Er sah plötzlich vor sich, wie ein fünfzig Jahre - nein, dreißig Jahre - jüngerer Henrik Vanger als charmanter Verführer und attraktiver Frauenheld ausgesehen haben musste. Er hatte nie wieder geheiratet. Ihm mussten noch andere Frauen begegnet sein, aber er war ein knappes halbes Jahrhundert Junggeselle geblieben.
Mikael nahm einen Schluck Kaffee und spitzte plötzlich die Ohren, als er merkte, dass das Gespräch in ernste Bahnen gekommen war und sich nun um Millennium drehte.
»Ich habe von Mikael erfahren, dass Sie ein Problem mit dem Magazin haben.« Erika warf Mikael einen verstohlenen Blick zu. »Nein, nein, er hat keine internen Angelegenheiten mit mir besprochen, aber man müsste taub und blind sein, um nicht zu begreifen, dass es mit Ihrer Zeitschrift, genau wie mit dem Unternehmen Vanger, bergab geht.«
»Wir werden das Ganze schon wieder in Ordnung bringen«, entgegnete Erika vorsichtig.
»Das bezweifle ich«, gab Henrik Vanger zurück.
»Warum?«
»Schauen wir doch mal - wie viele Angestellte haben Sie, sechs? Eine Auflage von 21 000 pro Monat, Druck, Vertrieb, Büroräume … Sie brauchen einen Jahresumsatz von, über den Daumen gepeilt, zehn Millionen. Ungefähr die Hälfte davon muss über die Anzeigeneinnahmen reinkommen.«
»Und?«
»Hans-Erik Wennerström ist ein nachtragender und kleinlicher Mistkerl, der Sie so schnell nicht vergessen dürfte. Wie viele Anzeigenkunden haben Sie in den letzten Monaten verloren?«
Erika betrachtete Henrik Vanger abwartend. Mikael hielt die Luft an. Wann immer er und der alte Mann über das Thema Millennium gesprochen hatten, waren entweder spöttische Kommentare gekommen, oder es ging darum, inwiefern die Situation seiner Zeitschrift Mikael erlaubte, einen vollwertigen Job in Hedestad zu leisten.
»Dürfte ich noch ein bisschen Kaffee haben?«, fragte Erika.
Vanger schenkte ihr sofort nach.
»Okay, Sie haben Ihre Hausaufgaben gemacht. Wir sind in Schwierigkeiten. Und wennschon.«
»Wie ernst ist die Lage?«
»Ein halbes Jahr können wir uns noch irgendwie über Wasser halten. Maximal acht bis zehn Monate. Aber wir haben einfach nicht genug Eigenkapital, um es länger zu schaffen.«
Die Miene des alten Mannes war unergründlich, als er aus dem Fenster sah. Die Kirche stand immer noch da.
»Wussten Sie, dass mir einmal einige Zeitungen gehörten?«
Mikael und Erika schüttelten den Kopf.
Vanger lachte plötzlich.
»Uns gehörten sechs Tageszeitungen in Norrland. Das war in den fünfziger und sechziger Jahren. Es war die Idee meines Vaters gewesen. Er meinte, es könnte einen politischen Vorteil bedeuten, wenn man die Medien hinter sich hat. Wir sind sogar immer noch einer der Teilhaber des Hedestads-Kuriren, und Birger ist Vorsitzender des Aufsichtsrats. Das ist Haralds Sohn«, fügte er an Mikael gewandt hinzu.
»Und außerdem Kommunalpolitiker«, stellte Mikael fest.
»Martin sitzt auch im Aufsichtsrat. Er hat ein Auge auf Birger.«
»Warum haben Sie die Zeitungen aufgegeben?«, fragte Mikael.
»Das lag an den Umstrukturierungen und Rationalisierungen in den sechziger Jahren. Zeitungen verlegen war irgendwie mehr ein Hobby als ein echtes Interesse. Als wir das Budget kürzen mussten, haben wir zuerst die Zeitungen abgestoßen. Aber ich weiß, was es bedeutet, eine Zeitschrift herauszugeben … Darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen?«
Die Frage war an Erika gerichtet, die eine Augenbraue hob und Vanger ein Zeichen gab fortzufahren.
»Ich habe Mikael nicht danach gefragt, und wenn Sie nicht antworten wollen, brauchen Sie nichts dazu zu sagen. Ich will wissen, wie Sie in diesen Schlamassel geraten sind. Hatten Sie eine Story oder nicht?«
Mikael und Erika tauschten einen Blick. Nun war es an Mikael, eine unergründliche Miene aufzusetzen. Erika zögerte einen Moment, bevor sie anfing zu sprechen.
»Wir hatten eine Story. Aber das war eigentlich eine ganz andere Story.«
Henrik Vanger nickte.
»Ich will nicht darüber reden«, schnitt Mikael die Diskussion ab. »Ich habe recherchiert und den Artikel geschrieben. Ich hatte alle Quellen, die ich brauchte. Dann ging alles in die Binsen.«
»Aber Sie hatten Quellen für alles, was Sie geschrieben haben?«
Mikael nickte.
Henrik Vangers Stimme wurde plötzlich scharf.
»Ich will nicht so tun, als wüsste ich, wie Sie auf diese Mine treten konnten. Mir fällt keine ähnliche Geschichte ein, außer vielleicht der Lundahl-Affäre im Expressen in den sechziger Jahren, aber das war lange vor Ihrer Zeit.« Er schüttelte den Kopf und wandte sich mit leiser Stimme an Erika. »Ich bin Zeitungsherausgeber gewesen und kann es wieder werden. Was würden Sie dazu sagen, wenn Sie einen weiteren Teilhaber bekämen?«
Die Frage kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel, aber Erika schien nicht im Geringsten überrascht zu sein.
»Wie meinen Sie das?«, fragte sie.
Henrik Vanger wich der Frage mit einer Gegenfrage aus. »Wie lange bleiben Sie hier in Hedestad?«
»Ich fahre morgen nach Hause.«
»Könnten Sie sich vorstellen - Sie und Mikael, meine ich natürlich -, einem alten Mann eine Freude zu machen und heute Abend zu mir zum Essen zu kommen? Um sieben Uhr?«
»Das passt prima. Wir kommen gerne. Aber Sie sind meiner Frage ausgewichen. Warum sollten Sie Teilhaber bei Millennium werden wollen?«
»Ich bin der Frage nicht ausgewichen. Ich dachte nur, dass wir bei einem kleinen Essen darüber reden sollten. Ich muss mit Dirch Frode, meinem Anwalt, sprechen, bevor ich konkret werden kann. Aber um es einfach auszudrücken: Ich habe Geld, das ich investieren kann. Wenn’s nicht funktioniert - tja, ich habe in meinem Leben schon bedeutend größere Verluste gemacht.«
Mikael wollte gerade den Mund aufmachen, als Erika ihm die Hand aufs Knie legte.
»Mikael und ich haben hart darum gekämpft, völlig unabhängig zu sein.«
»Unsinn. Kein Mensch ist völlig unabhängig. Aber ich bin gar nicht darauf aus, die Zeitschrift an mich zu reißen, und der Inhalt ist mir völlig egal. Dieser verdammte Stenbeck hat sich Pluspunkte geholt, als er Moderna Tider herausgab, da kann ich ja wohl hinter Millennium stehen. Das obendrein noch eine gute Zeitschrift ist.«
»Hat das etwas mit Wennerström zu tun?«, fragte Mikael plötzlich.
Henrik Vanger lächelte.
»Mikael, ich bin über achtzig Jahre alt. Ich habe es bereut, so manches versäumt und einigen Mistkerlen das Leben nicht saurer gemacht zu haben. Doch apropos« - er wandte sich wieder an Erika - »eine solche Investition ist mit mindestens einer Bedingung verbunden.«
»Schießen Sie los«, sagte Erika.
»Herr Blomkvist muss wieder den Posten des verantwortlichen Herausgebers übernehmen.«
»Das geht nicht!«, widersprach Mikael sofort.
»Doch!«, gab Henrik Vanger ebenso entschieden zurück. »Wennerström kriegt einen Schlaganfall, wenn wir mit der Pressemitteilung rausgehen, dass der Vanger-Konzern Millennium unter die Arme greift und Sie gleichzeitig als verantwortlicher Herausgeber zurückkommen. Deutlicher können wir nicht signalisieren, dass dies keine Machtübernahme ist und die Politik der Redaktion feststeht. Und allein das wird die Anzeigenkunden, die sich jetzt zurückziehen wollen, noch einmal zum Nachdenken zwingen. Wennerström ist nicht allmächtig. Er hat auch Feinde, und es wird Firmen geben, die Inserate schalten wollen.«
»Was zum Teufel sollte das denn bedeuten?«, fragte Mikael, sobald Erika die Haustür schloss.