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»Ich glaube, das nennt man vorbereitende Erkundigungen vor einem Geschäftsabschluss«, antwortete sie. »Du hattest mir ja gar nicht erzählt, dass Henrik Vanger so ein Schatz ist.«

Mikael baute sich vor ihr auf. »Ricky, du weißt genau, wovon dieses Gespräch handeln sollte.«

»Ach, komm schon. Es ist erst drei Uhr, und ich will mich vor diesem Abendessen noch ein bisschen amüsieren.«

Mikael Blomkvist kochte vor Wut. Aber er hatte Erika noch nie lange böse sein können.

Erika trug ein schwarzes Kleid, eine taillenkurze Jacke und Pumps, die sie rein zufällig in ihre kleine Reisetasche gesteckt hatte. Sie bestand darauf, dass auch Mikael sich in Schale warf. Er zog eine schwarze Hose an, ein graues Hemd, einen dunklen Schlips und ein graues Sakko. Als sie pünktlich bei Henrik Vanger erschienen, stellte sich heraus, dass auch Dirch Frode und Martin Vanger zu den Gästen gehörten. Alle trugen Schlips und Sakko, bis auf Henrik, der mit Fliege und brauner Strickjacke herumlief.

»Achtzig Jahre alt zu sein hat den Vorteil, dass keiner mehr beanstanden kann, wie man sich anzieht«, stellte er fest.

Erika war den ganzen Abend strahlender Laune.

Erst als sie es sich später in einem Salon mit offenem Kamin bequem machten und sich einen Cognac eingossen, kam ein ernsthaftes Gespräch in Gang. Sie redeten fast zwei Stunden, bis sie den Entwurf eines Vertrages auf dem Tisch hatten.

Frode sollte ein Unternehmen gründen, das zu 100 Prozent Henrik Vanger gehörte und dessen Leitung aus ihm, Frode und Martin Vanger bestehen sollte. Diese Firma würde über vier Jahre hinweg einen Betrag investieren, der Millenniums Defizit ausglich. Das Geld kam aus Henrik Vangers Privatvermögen. Im Gegenzug würde Henrik Vanger einen sichtbaren Posten im Vorstand erhalten. Diese Vereinbarung sollte vier Jahre gelten, konnte aber nach zwei Jahren von Millennium aufgekündigt werden. Eine solche vorzeitige Kündigung würde jedoch kostspielig werden, denn Henrik würde mit derselben Summe ausbezahlt werden müssen, die er eingezahlt hatte.

Im Falle seines plötzlichen Todes würde Martin Vanger für die restliche Zeit seinen Posten übernehmen. Wenn Martin sein Engagement über diese Zeit hinaus fortsetzen wollte, musste er zum gegebenen Zeitpunkt selbst dazu Stellung nehmen. Auch Martin Vanger schien erfreut über die Möglichkeit, es Hans-Erik Wennerström heimzuzahlen, und Mikael fragte sich, welche Differenzen er wohl mit Wennerström haben mochte.

Nachdem sie eine vorläufige Einigung erzielt hatten, schenkte Martin Vanger noch einmal Cognac nach. Henrik Vanger ergriff die Gelegenheit, um Mikael zuzuflüstern, dass dieser Vertrag ihre alte Vereinbarung in keiner Weise beeinträchtige.

Um in den Medien die größtmögliche Aufmerksamkeit zu erzielen, beschloss man außerdem, die neuen Eigentumsverhältnisse am selben Tag zu veröffentlichen, an dem Mikael sich Mitte März ins Gefängnis begab. Ein so negatives Ereignis mit der Bekanntmachung der neuen Strukturen zu verbinden, war rein PR-technisch so verkehrt, dass es Mikaels Verleumder verblüffen und Henrik Vangers Beitritt das maximale Rampenlicht verschaffen musste. Aber allen war die Logik dieses Plans klar - es war ein Signal, dass die Pestflagge, die derzeit über der Millennium-Redaktion wehte, wieder eingeholt wurde. Ab jetzt wurde mit harten Bandagen gekämpft.

Das Unternehmen Vanger steckte in einer Krise, aber es war immer noch ein gewichtiger Industriekonzern, der, wenn nötig, offensiv agieren konnte.

Das ganze Gespräch verlief in Form einer Diskussion zwischen Erika auf der einen Seite und Henrik und Martin auf der anderen. Keiner hatte Mikael gefragt, was er von der Sache hielt.

Spätnachts lag Mikael mit dem Kopf auf Erikas Brust und sah ihr in die Augen.

»Wie lange diskutiert ihr schon über diese Vereinbarung, du und Henrik Vanger?«, fragte er.

»Ungefähr seit einer Woche«, antwortete sie lächelnd.

»Ist Christer einverstanden?«

»Natürlich.«

»Warum durfte ich nichts davon erfahren?«

»Warum hätte ich das mit dir besprechen sollen? Du bist als verantwortlicher Herausgeber ausgeschieden, hast die Redaktion und die Verlagsleitung verlassen und dich mitten im Wald angesiedelt.«

Mikael dachte ein Weilchen darüber nach.

»Du meinst, ich verdiene es, wie ein Idiot behandelt zu werden?«

»Oh ja!«, sagte sie mit Nachdruck.

»Du warst wirklich sauer auf mich.«

»Ich habe mich noch nie so verraten und verkauft gefühlt wie in dem Moment, als du aus der Redaktion spaziert bist. Ich war noch nie so böse auf dich.« Sie griff ihm fest in die Haare und schob seinen Kopf weiter nach unten.

Als Erika Hedeby am Sonntag verließ, war Mikael so wütend auf Henrik Vanger, dass er nicht riskieren wollte, ihm oder einem anderen Mitglied der Familie über den Weg zu laufen. Stattdessen fuhr er nach Hedestad und verbrachte den Nachmittag damit, durch die Stadt zu bummeln, die Bibliothek zu besuchen und in einer Konditorei Kaffee zu trinken. Am Abend ging er ins Kino und sah sich Herr der Ringe an, den er in all dem Premierentrubel vor einem Jahr verpasst hatte. Plötzlich fand er, dass die Orks im Vergleich zu den Menschen doch einfache, unkomplizierte Wesen waren.

Er rundete den Abend bei McDonald’s in Hedestad ab und fuhr gegen Mitternacht mit dem letzten Bus auf die Insel zurück. Er machte Kaffee, setzte sich an den Küchentisch und holte einen Ordner hervor. Er las bis vier Uhr morgens.

Die Ermittlungen im Fall Harriet Vanger hatten einige Fragen aufgeworfen. Sie traten umso deutlicher hervor, je länger Mikael sich in den Bericht einarbeitete. Es waren keine sensationellen Entdeckungen, die er da machte, sondern altbekannte Probleme, die Gustav Morell lange Zeit beschäftigt hatten, sogar in seiner Freizeit.

Im letzten Jahr ihres Lebens hatte Harriet sich verändert. In gewisser Weise konnte man die Veränderung als die Metamorphose interpretieren, die alle Jugendlichen in ihrer Teenagerzeit in der einen oder anderen Form erleben. Harriet wurde langsam erwachsen, aber in ihrem Fall hatten Klassenkameraden, Lehrer und mehrere Familienmitglieder bezeugt, dass sie reserviert und verschlossen geworden war.

Zwei Jahre zuvor noch ein ganz normaler, ausgelassener Teenie, war sie auf einmal sichtbar auf Distanz zu ihrer Umgebung gegangen. In der Schule war Harriet immer noch mit ihren Mitschülern zusammen, doch plötzlich auf eine Weise, die eine ihrer Freundinnen als »unpersönlich« beschrieb. Das Wort, das die Freundin verwendete, war so außergewöhnlich, dass Morell es notierte und weitere Fragen dazu stellte. Sie erklärte ihm, dass Harriet aufgehört hatte, über sich selbst zu sprechen, zu tratschen oder über vertrauliche Dinge zu reden.

Harriet war auf kindliche Art christlich gewesen, während sie heranwuchs - Sonntagsschule, Abendgebet und Konfirmation. Im letzten Jahr schien sie jedoch richtiggehend religiös geworden zu sein. Sie las in der Bibel und ging regelmäßig in die Kirche. Sie hatte sich allerdings nicht Pastor Falk angeschlossen, der ein Freund der Familie Vanger war, sondern sich im Frühling eine Pfingstgemeinde in Hedestad gesucht. Dieses Engagement in der Pfingstgemeinde dauerte aber nicht lange. Schon nach zwei Monaten hatte sie die Gemeinde wieder verlassen und stattdessen begonnen, Bücher über den Katholizismus zu lesen.

Teeniehafte religiöse Schwärmerei? Vielleicht, aber in der Familie war sonst niemand in nennenswertem Ausmaß religiös, und es war schwer herauszufinden, welche Impulse ihre Gedanken lenkten. Eine Erklärung für ihr Interesse an Gott konnte freilich sein, dass ihr Vater zwei Jahre zuvor bei einem Unfall ertrunken war. Morell mutmaßte, dass in Harriets Leben irgendetwas geschehen sein musste, das sie bedrückte oder sonstwie beeinflusste. Ebenso wie Henrik Vanger hatte Morell viel Zeit darauf verwendet, mit Harriets Freunden zu sprechen, um jemand zu finden, dem sie sich vielleicht anvertraut hatte.

Man setzte eine gewisse Hoffnung in die zwei Jahre ältere Anita Vanger, Haralds Tochter, die den Sommer 1969 auf der Hedeby-Insel verbracht und sich nach eigener Aussage intensiv mit Harriet angefreundet hatte. Aber auch Anita Vanger konnte keine richtigen Auskünfte geben. Sie waren den Sommer über viel zusammen gewesen, waren baden gegangen, hatten Spaziergänge unternommen und über Filme, Popbands und Bücher geredet. Harriet war oft mitgekommen, wenn Anita Übungsfahrten für ihren Führerschein machte. Einmal tranken sie sich einen kleinen Schwips mit einer Flasche Wein an, die sie aus den Vorräten im Haus gemopst hatten. Außerdem wohnten sie mehrere Wochen zusammen in »Gottfrieds Hütte«, einem entlegenen kleinen Häuschen, das Harriets Vater Anfang der fünfziger Jahre errichtet hatte.