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Die Fragen nach Harriets privaten Gedanken und Gefühlen blieben unbeantwortet. Mikael fiel jedoch eine Diskrepanz in den Beschreibungen auf: Die Angaben zu Harriets zurückgezogenen Wesen stammten zum Großteil von Mitschülern und Familienmitgliedern, während Anita Vanger sie überhaupt nicht als verschlossen empfunden hatte. Er wollte bei Gelegenheit mit Henrik Vanger darüber sprechen.

Ein konkreteres Fragezeichen, dem Morell bedeutend mehr Interesse zugewandt hatte, war eine rätselhafte Seite in Harriets Kalender, einem schön eingebundenen Weihnachtsgeschenk, das sie im Jahr vor ihrem Verschwinden bekommen hatte. Die erste Hälfte des Kalenders enthielt einen Zeitplan, in dem Harriet jeden Tag Treffen, Prüfungstermine am Gymnasium, Hausaufgaben und anderes notiert hatte. Der Kalender ließ viel Platz für Tagebuchaufzeichnungen, allerdings führte Harriet nur sehr sporadisch Tagebuch. Sie begann im Januar noch recht ehrgeizig, mit kurzen Anmerkungen, wen sie in den Weihnachtsferien getroffen hatte, und mit Kommentaren zu Filmen, die sie gesehen hatte. Danach schrieb sie nichts Persönliches mehr auf. Nur eine kurze Notiz deutete darauf hin, dass ihr ein nicht namentlich genannter Junge auf der Schulabschlussfeier ganz gut gefallen hatte.

Aber die Seiten mit den Telefonnummern enthielten das wahre Geheimnis. Säuberlich waren dort in alphabetischer Reihenfolge Familienmitglieder, Klassenkameraden, gewisse Lehrer, ein paar Mitglieder der Pfingstgemeinde und andere leicht zu identifizierende Personen ihrer Umgebung aufgeführt. Auf der allerletzten Seite, die ganz weiß war und eigentlich schon außerhalb des alphabetischen Registers lag, standen fünf Namen und ebenso viele Telefonnummern. Es waren drei Frauennamen und zwei Namen in Initialen.

Die fünfstelligen Telefonnummern, die mit 32 anfingen, waren in den sechziger Jahren die Nummern in Hedestad. Die davon abweichende 30er-Nummer führte nach Norrby außerhalb von Hedestad. Allerdings wusste keiner, wer diese Personen waren, als Kommissar Morell in Harriets Bekanntenkreis nachfragte.

Die erste Nummer, die von »Magda«, schien vielversprechend. Die Nummer gehörte zu einem Stoff- und Kurzwarengeschäft in der Parkgata 12. Der Anschluss war auf eine Margot Lundmark zugelassen, deren Mutter tatsächlich Magda hieß und stundenweise im Laden aushalf. Magda war jedoch neunundsechzig Jahre alt und hatte keine Ahnung, wer Harriet Vanger war. Es gab auch keinerlei Hinweise, dass Harriet jemals in diesem Geschäft gewesen wäre oder dort etwas gekauft hätte. Handarbeiten gehörte nicht zu ihren Freizeitbeschäftigungen.

Die andere Nummer gehörte zu einer Familie Toresson in Väststan, auf der anderen Seite der Eisenbahnlinie. Die Familie bestand aus Anders und Monica sowie ihren Kindern Jonas und Peter, die im Vorschulalter waren. Eine Sara gab es nicht in der Familie, und man wusste nicht mehr über Harriet Vanger, als dass sie in den Massenmedien als vermisst gemeldet worden war. Die einzige vage Verbindung zwischen Harriet und den Toressons war, dass Anders, ein Dachdecker, im Jahr zuvor ein paar Wochen lang das Dach der Schule gedeckt hatte, in der Harriet die erste Gymnasialklasse besuchte. Es bestand also theoretisch die Möglichkeit, dass sie sich getroffen haben könnten, obwohl das als äußerst unwahrscheinlich betrachtet werden musste.

Die restlichen drei Telefonnummern führten in ähnliche Sackgassen. Bei »RL«, Nummer 32027, hatte tatsächlich eine Rosmarie Larsson gewohnt. Leider war sie schon vor ein paar Jahren verstorben.

Angesichts dieses Rätsels konzentrierten sich Morells Ermittlungen im Winter 1966/67 auf die Frage, warum Harriet diese Namen und Nummern notiert haben mochte.

Nicht allzu überraschend tippte er zunächst darauf, dass die Nummern mit einer Art persönlichem Code verschlüsselt waren - Morell versuchte also, sich vorzustellen, wie ein Teenie gedacht haben könnte. Da die 32er-Serie offensichtlich für Hedestad stand, versuchte er es mit einem Umstellen der letzten drei Ziffern. Doch weder 32601 noch 32160 führten zu einer Magda. Während Morell mit seiner Zahlenmystik weitermachte, war er guten Mutes, dass er früher oder später eine Verbindung zu Harriet finden würde, wenn er nur genügend Ziffern vertauschte. Wenn er zum Beispiel die letzten drei Stellen von 32016 erhöhte, bekam er 32127 - und das war die Nummer von Dirch Frodes Kanzlei in Hedestad. Dummerweise brachte ihn das auch nicht weiter.

Außerdem fand er keinen Code, der alle fünf Nummern zugleich erklärt hätte.

Konnten die Ziffern etwas anderes bedeuten? Die Nummernschilder der Autos trugen in den sechziger Jahren Buchstaben, die die Provinz bezeichneten, und fünf Ziffern - eine Sackgasse.

Da gab der Kommissar die Zahlen auf und konzentrierte sich auf die Namen. Er besorgte sich eine Liste aller Personen in Hedestad, die Mari, Magda oder Sara hießen oder die Initialen RL beziehungsweise RJ hatten. Er kam auf ein Verzeichnis von insgesamt dreihundertsieben Personen. Unter ihnen befanden sich ganze neunundzwanzig, die irgendwie in Beziehung zu Harriet standen. Ein ehemaliger Mitschüler hieß zum Beispiel Roland Jacobsson, RJ. Die beiden waren jedoch nur oberflächlich miteinander bekannt gewesen und hatten keinen Kontakt mehr gehabt, seit Harriet aufs Gymnasium ging. Und außerdem gab es natürlich keine Verbindung zu der entsprechenden Telefonnummer.

Das Telefonnummern-Rätsel blieb ungelöst.

Das vierte Treffen mit Rechtsanwalt Bjurman war keiner ihrer offiziell vereinbarten Termine. Sie war gezwungen gewesen, Kontakt mit ihm aufzunehmen.

In der zweiten Februarwoche ging Lisbeth Salanders Laptop bei einem Unfall zu Bruch, der so absurd war, dass sie, frustriert, Mordgelüste gegen den Verursacher hegte. Sie war zu einer Besprechung bei Milton Security gefahren, hatte das Fahrrad hinter einen Pfeiler der Tiefgarage geschoben und den Rucksack auf den Boden gestellt, um das Rad abschließen zu können. Im nächsten Moment parkte ein dunkelroter Saab rückwärts aus. Sie stand mit dem Rücken zu ihm und hörte nur das Knacken in ihrem Rucksack. Der Autofahrer hatte nichts bemerkt und war unbekümmert durch die Ausfahrt verschwunden.

Der Rucksack enthielt ihr weißes Apple-iBook 600 mit einer 25-Gigabyte-Festplatte und 420 MB RAM, hergestellt im Januar 2002 und ausgestattet mit einem 14-Zoll-Bildschirm. Als sie ihn kaufte, war dieser Laptop das Neueste vom Neuesten. Computerzubehör war im Großen und Ganzen der einzige extravagante Posten in ihren Ausgaben.

Als sie den Rucksack aufmachte, konnte sie sehen, dass der Deckel des Laptops zerbrochen war. Sie steckte den Netzstecker ein und versuchte, den Computer zu starten, aber er gab nicht einmal eine letzte Zuckung von sich. Sie brachte die Überreste zu Timmys MacJesus Shop, in der Hoffnung, dass zumindest die Festplatte gerettet werden könnte. Timmy fummelte nur ein wenig daran herum, dann schüttelte er den Kopf.

»Sorry. Keine Hoffnung«, sagte er. »Bereite ihm ein schönes Begräbnis.«

Der Verlust des Computers war deprimierend, aber keine Katastrophe. Lisbeth Salander war in dem einen Jahr, in dem sie ihn gehabt hatte, bestens mit ihm zurechtgekommen. Sie besaß Sicherheitskopien von allen Dokumenten und zu Hause einen älteren Mac G3 sowie einen fünf Jahre alten Toshiba PC Laptop, den sie auch noch benutzen konnte. Aber - verflucht! - sie brauchte eine schnelle und moderne Kiste.