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Der Gedanke, Nils Bjurman anzuzeigen, kam ihr gar nicht. Und im Übrigen - was sollte sie eigentlich anzeigen? Dass Bjurman ihr an die Brust gefasst hatte. Jeder Polizist musste nur einen Blick auf ihre Miniknöspchen werfen, um zu erkennen, dass das ziemlich unwahrscheinlich war, und wenn es denn tatsächlich passiert sein sollte, müsste sie eher stolz darauf sein, dass sich überhaupt jemand die Mühe gemacht hatte. Und das mit dem Blow-job - da stand ihr Wort gegen seines, und für gewöhnlich wog das Wort anderer stets schwerer als ihr eigenes. Nein, die Polizei war keine Alternative.

Nachdem sie Bjurmans Kanzlei verlassen hatte, war sie also nach Hause gefahren, hatte geduscht, zwei Brote mit Käse und Salzgurken gegessen und sich zum Nachdenken auf das zerschlissene, fusselige Wohnzimmersofa gesetzt.

Ein normaler Mensch hätte ihr die scheinbare Gleichgültigkeit zum Nachteil angerechnet - es wäre ein weiterer Beweis dafür gewesen, wie unnormal sie war, wenn nicht einmal eine Vergewaltigung eine befriedigende emotionale Reaktion hervorrufen konnte.

Ihr Bekanntenkreis war nicht groß und stammte auch nicht aus der wohlbehüteten Mittelklasse der bürgerlichen Vororte, doch schon mit achtzehn hatte Lisbeth Salander kein einziges Mädchen gekannt, das nicht zumindest einmal gegen seinen Willen irgendeine sexuelle Handlung hatte ausführen müssen.

In Lisbeth Salanders Welt war das ein natürlicher Zustand. Als Mädchen war sie Freiwild, vor allem, wenn sie eine abgetragene schwarze Lederjacke trug, eine gepiercte Augenbraue, Tattoos und null sozialen Status hatte.

Das war kein Grund zum Heulen.

Doch das hieß noch lange nicht, dass Anwalt Bjurman sie ungestraft zwingen konnte, ihm einen zu blasen. Einmal zugefügtes Unrecht vergaß Lisbeth Salander nie, und sie war von Natur aus alles andere als nachsichtig.

Soweit sie zurückdenken konnte, hatte sie immer als schwierig und grundlos gewalttätig gegolten. Die Regeln für den sozialen Umgang in der Schule hatten sie immer verwirrt. Sie kümmerte sich nur um sich und nicht um das, was die Leute um sie herum trieben. Und trotzdem war da immer einer, der sie nicht in Frieden lassen wollte.

Später war sie mehrmals nach Hause geschickt worden, nachdem sie in gewalttätige Auseinandersetzungen mit Klassenkameraden geraten war. Wesentlich kräftigere Jungen in ihrer Klasse lernten schnell, dass es unangenehm werden konnte, wenn man sich mit dem schmächtigen Mädchen anlegte - im Gegensatz zu den anderen Mädchen in der Klasse kniff sie nie, sondern zögerte keine Sekunde, sich mit Fäusten oder Waffen zur Wehr zu setzen. Sie ließ keinen Zweifel daran, dass sie sich eher totschlagen lassen würde, als klein beizugeben.

Außerdem rächte sie sich.

Als Lisbeth Salander in die sechste Klasse ging, war sie mit einem wesentlich größeren und stärkeren Jungen in Streit geraten. Rein körperlich konnte sie es nicht mit ihm aufnehmen. Er hatte sich einen Spaß daraus gemacht, sie herumzuschubsen, und als sie zum Gegenangriff übergehen wollte, hatte er ihr ein paar Ohrfeigen verpasst. Es half jedoch nichts, so überlegen er ihr auch war, das dumme Ding ging immer wieder auf ihn los. Zum Schluss fanden sogar die Klassenkameraden, dass es zu weit ging. Sie war so offensichtlich unterlegen, dass es schon peinlich war. Zu guter Letzt hatte ihr der Junge einen so kräftigen Fausthieb versetzt, dass ihr die Lippe platzte und sie Sternchen sah. Sie ließen sie auf dem Boden hinter der Turnhalle liegen. Sie blieb zwei Tage zu Hause. Am Morgen des dritten Tages erwartete sie ihren Peiniger mit einem Baseballschläger, den sie ihm übers Ohr zog. Dafür wurde sie zum Direktor bestellt, der beschloss, Anzeige wegen Körperverletzung gegen sie zu erstatten.

Ihre Klassenkameraden hielten sie für verrückt und behandelten sie entsprechend. Bei ihren Lehrern, die sie manchmal als echte Plage empfanden, weckte sie ebenso wenig Sympathie. Ein ungeliebtes Mädchen mit eigenartigem Verhalten.

Dann geschah All Das Böse, an das sie nicht denken wollte, gerade als sie an der Schwelle zum Teenageralter stand. Der letzte Ausbruch, der das Muster vervollständigte. Und dann wurde ihre Akte hervorgeholt, die zu ihren Ungunsten sprach. Seitdem wurde sie juristisch als … na ja, als verrückt betrachtet. Ein Freak. Lisbeth Salander hatte noch nie ein Papier gebraucht, um zu wissen, dass sie anders war. Und andererseits hatte es sie auch nicht wirklich gestört, solange Holger Palmgren ihr Betreuer war.

Mit Bjurmans Auftritt drohte die Anordnung der umfassenden Betreuung eine dramatische Belastung in ihrem Leben zu werden. An wen sie sich auch wenden mochte, überall würden sich potenzielle Fallgruben auftun, und was geschah, wenn sie den Kampf verlor? Würde sie in eine Anstalt eingewiesen werden? In ein Irrenhaus? Das war wirklich keine Alternative.

Später in der Nacht, als Cecilia und Mikael eng umschlungen im Bett lagen, sah sie zu ihm hoch.

»Danke. Das ist schon lange her gewesen. Du bist wirklich nicht schlecht im Bett.«

Mikael lächelte. Sexuelle Schmeicheleien machten ihn immer auf eine kindliche Weise glücklich.

»Es hat mir Spaß gemacht«, sagte er.

»Wir können das jederzeit wieder machen«, sagte Cecilia Vanger. »Wenn du Lust hast.«

Mikael sah sie an.

»Willst du dir etwa einen Liebhaber zulegen?«

»Einen occasional lover«, sagte Cecilia Vanger. »Aber ich will, dass du gehst, bevor du einschläfst. Ich will nicht morgen früh aufwachen und dich hier haben, bevor ich mein Gesicht in Ordnung gebracht habe. Und dann wäre es auch schön, wenn du nicht der ganzen Stadt erzählst, dass wir hier was laufen haben.«

»Kein Problem, denke ich«, sagte Mikael.

»Vor allem möchte ich nicht, dass Isabella davon erfährt, die alte Hexe.«

»Deine nächste Nachbarin … ich bin ihr schon begegnet.«

»Glücklicherweise kann sie meine Haustür von ihrem Fenster aus nicht sehen. Sei bitte diskret, Mikael.«

»Ich werde diskret sein.«

»Danke. Trinkst du Alkohol?«

»Manchmal.«

»Ich hab furchtbar Lust auf was Fruchtiges mit Gin drin. Willst du auch was?«

»Gerne.«

Sie raffte sich ein Laken um den Körper und verschwand ins Erdgeschoss. Mikael nutzte die Gelegenheit, um zur Toilette zu gehen und sich ein bisschen zu waschen. Er stand nackt vor ihrem Bücherregal, als sie mit einer Karaffe Eiswasser und zwei Gin and Lime zurückkam. Sie prosteten sich zu.

»Warum bist du zu mir gekommen?«, fragte sie.

»Einfach so …«

»Zuerst hast du Henriks Bericht gelesen. Und dann bist du direkt zu mir gekommen. Man muss nicht besonders schlau sein, um zwei und zwei zusammenzuzählen.«

»Hast du den Bericht gelesen?«

»Teilweise. Ich habe mein ganzes Erwachsenenleben mit diesem Bericht verbracht. Man kann keinen Kontakt mit Henrik haben, ohne auch mit dem Rätsel Harriet in Berührung zu kommen.«

»Es ist aber auch wirklich ein faszinierender Fall. Ich meine, diese Insel ist wie ein geschlossenes System. Und nichts in den Ermittlungen scheint normaler Logik zu folgen. Alle Fragen bleiben unbeantwortet, jede Spur führt in eine Sackgasse.«

»Mmmh, von so was können Menschen besessen sein.«