Выбрать главу

Doch zwei Tatsachen blieben bestehen: Bjurmans Tod würde ihr nicht die Kontrolle über ihr Leben wiedergeben, und es gab keine Garantie dafür, dass sein Nachfolger nicht zehnmal so schlimm sein würde. Konsequenzanalyse.

Was sie brauchte, war eine Möglichkeit, ihren Betreuer und damit ihre eigene Situation zu kontrollieren. Sie saß einen ganzen Abend unbeweglich auf dem zerschlissenen Sofa im Wohnzimmer und ging die Situation noch einmal durch. Als der Abend vergangen war, hatte sie ihre Giftmordpläne fallen lassen und einen neuen Gedanken gefasst.

Dieser Plan war zwar nicht sehr verlockend und erforderte, dass sie Bjurman abermals an sich heranließ, doch am Ende würde sie Erfolg haben.

Glaubte sie.

Ende Februar geriet Mikael in einen Trott, der den Aufenthalt in Hedeby in Routine verwandelte. Er stand jeden Morgen um neun Uhr auf, frühstückte und arbeitete bis zwölf. In dieser Zeit las er sich in neues Material ein. Danach ging er, unabhängig vom Wetter, eine Stunde spazieren. Am Nachmittag machte er weiter, zu Hause oder in Susannes Café, indem er entweder sein Pensum vom Vormittag bearbeitete oder Teile von Henriks Autobiografie schrieb. Zwischen drei und sechs Uhr hatte er immer frei. Dann kaufte er ein, wusch ab oder fuhr nach Hedestad und erledigte Besorgungen. Gegen sieben ging er zu Henrik Vanger hinüber und besprach mit ihm die offenen Fragen, die während des Tages aufgetaucht waren. Gegen zehn war er wieder zu Hause und las bis ein oder zwei Uhr nachts. Systematisch ackerte er Henriks Dokumentensammlung durch.

Zu seiner Überraschung stellte er fest, dass die Arbeit an Henriks Autobiografie wie am Schnürchen lief. Er hatte bereits einen Abriss der Familienchronik von fast 120 Seiten fertig - er umfasste den Zeitraum von Jean Baptiste Bernadottes Ankunft in Schweden bis hinein in die zwanziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts. Danach musste er langsamer vorangehen und seine Worte sorgfältiger abwägen. In der Bibliothek in Hedestad hatte er Bücher bestellt, die den schwedischen Nazismus jener Zeit behandelten, unter anderem Helene Lööws Doktorarbeit Hakenkreuz und Wasa-Garbe. Er hatte einen weiteren vierzigseitigen Entwurf über Henrik und seine Brüder geschrieben, in dem Henrik im Mittelpunkt stand und die Erzählung zusammenhielt. Bevor er wusste, wie das Unternehmen damals aussah und arbeitete, musste er noch eine ganze Reihe von Dingen recherchieren. Außerdem entdeckte er, dass die Familie Vanger tief ins Wirtschaftsimperium des Großindustriellen Ivar Kreuger verstrickt war - noch eine Nebenhandlung der Familiengeschichte, die es galt, sich in Erinnerung zu rufen. Insgesamt rechnete er damit, dass er noch dreihundert bis dreihundertfünfzig Seiten zu schreiben hatte. Sein Zeitplan war so konzipiert, dass er Henrik Vanger am 1. September einen ersten Entwurf vorlegen konnte. Dann konnte er den Herbst mit der Umarbeitung des Textes verbringen.

Bei den Untersuchungen zu Harriet Vanger kam Mikael hingegen keinen Millimeter voran. Soviel er auch las und über die Details des umfangreichen Materials nachgrübelte, er fand keine einzige Anregung, die auf die vorliegende Ermittlung ein neues Licht geworfen hätte.

Eines Samstagabends Ende Februar hatte er ein langes Gespräch mit Henrik Vanger, in dem er die Gründe für seine minimalen Fortschritte erläuterte. Der Alte hörte ihm geduldig zu, während Mikael all die Sackgassen aufzählte, in denen er gelandet war.

»Um es kurz zu machen, Henrik - ich finde nichts in den Ermittlungen, dem man nicht bereits restlos auf den Grund gegangen wäre.«

»Ich verstehe, was Sie meinen. Ich habe mir selbst jahrzehntelang den Kopf zerbrochen. Aber gleichzeitig bin ich ganz sicher, dass wir etwas übersehen haben. Kein Verbrechen ist absolut perfekt.«

»Wir können ja nicht mal herausfinden, ob wirklich ein Verbrechen begangen wurde.«

Vanger seufzte und zuckte resigniert mit den Schultern.

»Machen Sie weiter«, bat er. »Führen Sie Ihren Auftrag zu Ende.«

»Das ist sinnlos.«

»Vielleicht. Aber geben Sie nicht auf.«

Mikael seufzte.

»Die Telefonnummern«, sagte er schließlich.

»Ja.«

»Sie müssen etwas zu bedeuten haben.«

»Ja.«

»Sie sind mit Absicht notiert worden.«

»Ja.«

»Aber wir können sie nicht deuten.«

»Nein.«

»Oder wir missdeuten sie.«

»Genau.«

»Vielleicht sind es gar keine Telefonnummern. Vielleicht bedeuten sie etwas ganz anderes.«

»Ja, vielleicht.«

Mikael seufzte nochmals und ging nach Hause, um weiterzulesen.

Rechtsanwalt Nils Bjurman war erleichtert, als Lisbeth Salander ihn erneut anrief und sagte, sie brauche mehr Geld. Ihrem letzten offiziellen Treffen war sie mit der Entschuldigung ferngeblieben, sie müsse arbeiten. Er war beunruhigt gewesen, da er fürchtete, Lisbeth Salander wolle ihm Scherereien machen. Aber da sie nicht zum Treffen erschienen war, hatte sie auch kein Taschengeld bekommen, und früher oder später würde sie sich an ihn wenden müssen. Außerdem machte er sich Sorgen, dass sie einem Außenstehenden von seinem Verhalten erzählt haben könnte.

Ihr kurzes Gespräch, in dem sie ihm mitteilte, dass sie Geld brauchte, bestätigte ihm jedoch, dass die Situation unter Kontrolle war. Aber sie musste gebändigt werden, beschloss Nils Bjurman. Sie musste lernen, wer hier das Sagen hatte, erst dann konnten sie eine konstruktivere Beziehung aufbauen. Deswegen gab er ihr diesmal Anweisungen, ihn in seiner Wohnung am Oden-Platz zu treffen, nicht im Büro. Als er diesen Wunsch äußerte, hatte Lisbeth Salander am anderen Ende der Leitung ein Weilchen geschwiegen - verdammte, begriffsstutzige Fotze -, bevor sie schließlich einwilligte.

Nach ihrem Plan hätten sie sich in seinem Büro treffen müssen, genau wie letztes Mal. Jetzt war sie gezwungen, ihn auf unbekanntem Territorium zu treffen. Das Treffen wurde für Freitagabend angesetzt. Sie hatte den Zahlencode für die Tür bekommen und klingelte um halb neun bei ihm, eine halbe Stunde später als verabredet. Das war die Zeit, die sie im Dunkel des Treppenhauses benötigte, um ihren Plan ein letztes Mal durchzugehen, die Alternativen abzuwägen, ihre ganze Kraft zu sammeln und den nötigen Mut zu mobilisieren.

Gegen acht Uhr abends schaltete Mikael seinen Computer aus und zog sich Jacke und Schuhe an. Das Licht im Arbeitszimmer ließ er brennen. Draußen war es sternenklar, die Temperatur lag bei null Grad. Er ging rasch den Hügel hinauf, vorbei an Henrik Vangers Haus, auf dem Weg Richtung Östergården. Gleich hinter Henriks Haus bog er nach links ab und folgte einem ungeräumten Fußweg in Strandnähe, auf dem der Schnee aber schon festgetrampelt war. Draußen auf dem Wasser blinkten die Leuchttürme, und die Lichter von Hedestad leuchteten hübsch in der Dunkelheit. Er brauchte frische Luft, aber vor allem wollte er Isabella Vangers spähendem Blick entgehen. Bei Martin Vangers Haus ging er zur Straße hoch und kam kurz nach halb neun bei Cecilia an. Sie gingen sofort in ihr Schlafzimmer hinauf.

Sie trafen sich ein- oder zweimal pro Woche. Cecilia war nicht nur seine Geliebte in der Einöde geworden, sie war auch die Person, der er sich allmählich anvertraute. Wenn er mit ihr über Harriet redete, zog er wesentlich größeren Gewinn daraus als aus einem Gespräch mit Henrik.

Der Plan schien von vornherein zum Scheitern verurteilt.

Rechtsanwalt Bjurman hatte einen Morgenrock an, als er seine Wohnungstür öffnete. Er war etwas gereizt wegen ihrer Verspätung und winkte sie herein. Sie trug eine schwarze Jeans, ein schwarzes T-Shirt und die obligatorische Lederjacke. Dazu schwarze Stiefel und einen kleinen Rucksack mit einem Riemen über der Brust.

»Kannst du noch nicht mal die Uhr lesen?«, fuhr Bjurman sie scharf an. Lisbeth schaute sich schweigend um. Die Wohnung sah ungefähr so aus, wie sie erwartet hatte, nachdem sie die Planzeichnung im Archiv des Bauamts studiert hatte. Er hatte helle Möbel in Birke und Buche.