Sie blieb bei dem Artikel einer Frauengruppe aus den USA hängen, in dem behauptet wurde, dass der Sadist seine Opfer mit fast intuitiver Präzision aussuchte. Das ideale Opfer war eine Frau, die ihm aus freien Stücken entgegenkam, weil sie glaubte, keine andere Wahl zu haben. Der Sadist spezialisierte sich auf unselbstständige Menschen, die in einem Abhängigkeitsverhältnis zu ihm standen.
Rechtsanwalt Bjurman hatte sie zum Opfer auserkoren.
Das gab ihr zu denken.
Das verriet etwas darüber, wie die Umwelt sie wahrnahm.
Am Freitag, eine Woche nach der zweiten Vergewaltigung, ging Lisbeth Salander von ihrer Wohnung zu einem Tattoo-Laden bei Hornstull. Sie hatte angerufen und einen Termin ausgemacht; es waren keine anderen Kunden im Laden. Der Inhaber nickte ihr zu, sie kannten sich.
Sie suchte sich ein kleines Tattoo aus, eine dünne Schlinge, und zeigte ihm, wo an ihrem Fußknöchel sie es hinhaben wollte.
»Da ist die Haut dünn. Das tut fürchterlich weh an dieser Stelle«, sagte der Tätowierer.
»Das geht in Ordnung«, sagte Lisbeth Salander, zog ihre Hose aus und legte das Bein hoch.
»Okay, eine Schlinge. Du hast schon eine ganze Menge Tattoos. Bist du sicher, dass du noch eins willst?«
»Das hier ist zur Erinnerung«, antwortete sie.
Mikael Blomkvist verließ Susannes Café, als sie um zwei Uhr zumachte. Den ganzen Tag hatte er mit der Reinschrift seiner Notizen am iBook verbracht. Er ging in den Supermarkt und kaufte Lebensmittel und Zigaretten, bevor er nach Hause ging. Er hatte Bratwurst mit Kartoffeln und Roter Bete für sich entdeckt - ein Gericht, das er nie sonderlich geliebt hatte, das aber aus unerfindlichen Gründen perfekt zu einem Häuschen auf dem Land passte.
Gegen sieben Uhr abends stand er am Küchenfenster und überlegte. Cecilia hatte sich nicht gemeldet. Er hatte sie ganz kurz am Nachmittag getroffen, als sie bei Susanne ein Brot kaufte, aber sie war mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt gewesen. Es sah nicht so aus, als würde sie an diesem Samstagabend noch anrufen. Er warf einen verstohlenen Blick auf seinen kleinen Fernseher, den er fast nie benutzte. Stattdessen setzte er sich aufs Küchensofa und schlug einen Krimi von Sue Grafton auf.
Lisbeth Salander kam am Samstagabend wie verabredet wieder zu Nils Bjurmans Wohnung am Oden-Platz. Er öffnete ihr die Tür mit einem höflichen, einladenden Lächeln.
»Na, wie geht es dir heute?«, fragte er.
Sie antwortete nicht. Er legte ihr den Arm um die Schultern.
»Vielleicht habe ich dich beim letzten Mal etwas hart rangenommen«, sagte er. »Du sahst ziemlich mitgenommen aus.«
Sie bedachte ihn mit einem schiefen Lächeln, und er verspürte auf einmal einen Stich von Unsicherheit.
Dieses Weib ist verrückt. Das darf ich nicht vergessen. Er fragte sich, ob sie ihm zu Willen sein würde.
»Sollen wir ins Schlafzimmer gehen?«, fragte Lisbeth Salander.
Andererseits macht sie vielleicht auch mit … Er führte sie, einen Arm um ihre Schultern gelegt, wie beim letzten Mal. Heute werde ich ganz behutsam mit ihr sein. Vertrauen aufbauen. Auf der Kommode hatte er bereits die Handschellen bereitgelegt. Erst als sie beim Bett waren, ging Bjurman auf, dass irgendetwas nicht stimmte.
Sie führte ihn zum Bett, nicht umgekehrt. Er blieb stehen und blickte sie verblüfft an, als sie etwas aus ihrer Jackentasche zog, was er zunächst für ein Handy hielt. Dann sah er ihre Augen.
»Sag schön Gute Nacht«, forderte sie ihn auf.
Sie drückte die Elektroschockpistole in seine linke Achselhöhle und feuerte 75 000 Volt ab. Als seine Beine langsam unter ihm nachgaben, stemmte sie sich mit der Schulter gegen ihn und wandte all ihre Kraft auf, um ihn zum Bett zu bugsieren.
Cecilia Vanger fühlte sich leicht beschwipst. Sie hatte beschlossen, Mikael Blomkvist nicht anzurufen. Ihr ganzes Verhältnis hatte sich zu einer unsinnigen Schlafzimmer-Farce ausgewachsen, in der Mikael alle möglichen Umwege benutzte, um unbemerkt zu ihr zu gelangen. Und sie verhielt sich wie ein verrückter, verliebter Teenie, der seine Lust nicht im Griff hatte. Ihr Benehmen war in den letzten Wochen ziemlich eigenartig gewesen.
Das Problem ist, dass ich ihn viel zu gern mag, dachte sie. Er wird mich verletzen. Sie blieb eine Weile sitzen und wünschte sich, Mikael Blomkvist wäre nie nach Hedeby gekommen.
Stattdessen hatte sie eine Flasche Wein aufgemacht und einsam zwei Gläser getrunken. Sie schaltete die tägliche Nachrichtensendung Rapport an und versuchte, der Weltlage zu folgen, doch in Anbetracht der unsinnigen Begründungen, warum Präsident Bush den Irak in Schutt und Asche bomben musste, verging ihr sofort die Lust. Sie setzte sich aufs Wohnzimmersofa und griff zu Gellert Tamas Buch Der Lasermann. Sie konnte nur ein paar Seiten lesen, bevor sie das Buch wieder aus der Hand legen musste. Bei diesem Thema musste sie sofort an ihren Vater denken. Sie fragte sich, welchen Fantasien er in seiner Einsamkeit wohl nachhing.
Bei ihrer letzten Begegnung, 1984, hatte sie ihn und ihren Bruder Birger auf eine Hasenjagd nördlich von Hedestad begleitet. Birger wollte einen neuen Jagdhund ausprobieren - einen Hamilton-Laufhund, den er erst seit Kurzem hatte. Harald Vanger war dreiundsiebzig, und sie tat ihr Bestes, um seine Verrücktheit zu akzeptieren, die ihre Kindheit zum Alptraum gemacht und auch ihr Erwachsenenleben noch geprägt hatte.
Cecilia war noch nie in ihrem Leben so zerbrechlich wie damals gewesen. Ihre Ehe war drei Monate zuvor in die Brüche gegangen. Misshandlung der Ehefrau - der Ausdruck war so banal. Für sie war es eine relativ milde Form von Misshandlung gewesen, die jedoch ständig geschah: Er hatte sie geohrfeigt, grob herumgestoßen, launisch Drohungen ausgesprochen und sie auf dem Küchenboden niedergerungen. Seine Ausbrüche waren immer völlig unerklärlich, und die Misshandlungen fielen selten so heftig aus, dass sie körperlich verletzt wurde. Er vermied es, sie mit der geballten Faust zu schlagen. Sie hatte sich angepasst.
Bis zu dem Tag, an dem sie plötzlich zurückschlug und er völlig die Kontrolle verlor. Es endete damit, dass er in blinder Rage eine Schere nach ihr warf, die in ihrem Schulterblatt stecken blieb.
Es hatte ihm sofort leid getan, er wurde ganz panisch und fuhr sie ins Krankenhaus, wo er eine Geschichte über einen bizarren Unfall zusammenfantasierte, die das Personal in der Notaufnahme im selben Moment durchschaute. Sie schämte sich dafür. Sie wurde mit zwölf Stichen genäht und musste zwei Tage im Krankenhaus bleiben. Danach hatte Henrik Vanger sie abgeholt und mit zu sich nach Hause genommen. Seitdem hatte sie nicht mehr mit ihrem Mann gesprochen.
Es war ein sonniger Herbsttag, drei Monate nach dem Ende ihrer Ehe, und Harald Vanger war gut gelaunt, fast schon freundlich gewesen. Doch plötzlich, mitten im Wald, hatte er Cecilia auf die übelste Weise beschimpft, grobe Kommentare zu ihrem Lebenswandel und ihren Sexualgewohnheiten abgegeben und behauptet, eine Hure wie sie könne selbstverständlich keinen Mann halten.
Ihr Bruder hatte nicht bemerkt, dass jedes Wort ihres Vaters sie wie ein Peitschenschlag getroffen hatte. Vielmehr lachte Birger plötzlich, legte den Arm um seinen Vater und entschärfte die Situation auf seine Art, indem er verkündete, er wisse sehr wohl, wie die Weibsbilder so sind. Er zwinkerte Cecilia unbekümmert zu und schlug seinem Vater vor, auf einem kleinen Hügel auf Anstand zu gehen.
Eine Sekunde, einen gefrorenen Augenblick lang, hatte Cecilia ihren Vater und ihren Bruder betrachtet und war sich auf einmal bewusst gewesen, dass sie eine geladene Schrotflinte in der Hand hielt. Sie blinzelte. In diesem Moment schien es die einzig mögliche Alternative zu sein, das Gewehr zu heben und beide Läufe abzufeuern. Sie wollte sie beide töten. Stattdessen ließ sie das Gewehr auf den Boden vor ihren Füßen fallen, drehte sich auf dem Absatz um und ging zurück zu der Stelle, wo sie das Auto geparkt hatten. Sie fuhr alleine nach Hause und ließ die Männer ohne Transportmittel im Wald zurück. Seit diesem Vorfall hatte sie nur bei wenigen Gelegenheiten mit ihrem Vater geredet, wenn die äußeren Umstände es unbedingt erforderten. Sie weigerte sich seitdem, ihn in ihr Haus zu lassen, und hatte ihn nie in seinem Haus besucht.