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Bevor er ins Gefängnis gegangen war, hatte er den Großteil von Henrik Vangers Dokumentation zu Harriet wieder hinübergetragen. Es schien klüger zu sein, die Ordner nicht über längere Zeit in einem leeren Haus zu lassen. Jetzt gähnten ihn die leeren Regale an. Alles, was er von der Untersuchung noch bei sich hatte, waren fünf von Henrik Vangers eigenen Notizbüchern, die er nach Rullåker mitgenommen hatte und mittlerweile auswendig kannte. Und, wie er feststellen konnte, auch noch ein Fotoalbum, das er ganz oben auf dem Bücherregal vergessen hatte.

Er holte das Album herunter und nahm es mit an den Küchentisch. Dann goss er sich Kaffee ein, setzte sich und begann zu blättern.

Es enthielt die Bilder, die an dem Tag aufgenommen worden waren, an dem Harriet verschwand. Erst kam das letzte Bild von Harriet, auf dem Umzug des Kindertages in Hedestad. Dann folgten gut hundertachtzig gestochen scharfe Fotos vom Tanklasterunfall auf der Brücke. Er hatte das Album schon früher mehrmals Bild für Bild sorgfältig mit dem Vergrößerungsglas durchgesehen. Jetzt blätterte er zerstreut darin herum. Er wusste, dass er nichts Neues mehr finden würde. Plötzlich fühlte er sich des Rätsels um Harriet Vanger überdrüssig und schlug das Album mit einem Knall zu.

Ruhelos ging er ans Küchenfenster und starrte in die Dunkelheit.

Dann sah er wieder das Fotoalbum an. Er konnte das Gefühl nicht recht erklären, aber plötzlich hatte er einen flüchtigen Gedanken, ganz so, als würde er auf etwas reagieren, was er gerade gesehen hatte. Es war, als hätte ihm ein unsichtbares Wesen vorsichtig ins Ohr gepustet, und seine Nackenhaare stellten sich ganz leicht auf.

Er ging es Seite für Seite noch einmal durch, jedes Bild von der Brücke. Er sah sich die jüngere, ölverschmierte Ausgabe von Henrik Vanger an und einen jüngeren Harald Vanger, den er bis jetzt noch nicht zu Gesicht bekommen hatte. Das kaputte Brückengeländer, die Gebäude, Fenster und Fahrzeuge. Unter den Zuschauern konnte er problemlos eine zwanzigjährige Cecilia Vanger identifizieren. Sie trug ein helles Kleid und eine dunkle Jacke und war auf ungefähr zwanzig Bildern im Album zu sehen.

Plötzlich wurde ihm heiß. Über die Jahre hatte Mikael gelernt, sich auf seinen Instinkt zu verlassen. Er hatte auf irgendetwas in diesem Album reagiert, aber er konnte nicht genau sagen, worauf.

Er saß immer noch am Küchentisch und starrte auf die Bilder, als er gegen elf die Haustür aufgehen hörte.

»Darf ich reinkommen?«, fragte Cecilia. Ohne eine Antwort abzuwarten, setzte sie sich ihm gegenüber an den Küchentisch. Mikael hatte ein seltsames Déjà-vu-Gefühl. Sie trug ein weites, dünnes, helles Kleid und eine graublaue Jacke, fast identisch mit der Kleidung, die sie auf den Bildern von 1966 anhatte.

»Entschuldige, aber du hast mich überrascht, als du heute Abend geklopft hast. Jetzt bin ich so unglücklich, dass ich nicht schlafen kann.«

»Warum bist du unglücklich?«

»Begreifst du das denn nicht?«

Er schüttelte den Kopf.

»Kann ich es dir erzählen, ohne dass du mich auslachst?«

»Ich verspreche dir, ich werde nicht lachen.«

»Es war eine spontane Idee von mir, als ich dich im Frühjahr verführte. Ich wollte einfach nur Spaß haben. Nichts weiter. An diesem ersten Abend war ich einfach nur ziemlich angetrunken, und ich hatte nicht vor, irgendetwas Längerfristiges mit dir anzufangen. Dann wurde es aber zu etwas anderem. Ich möchte, dass du weißt, dass die Wochen, in denen du mein occasional lover warst, zu den schönsten Wochen meines Lebens gehören.«

»Ich fand sie auch sehr schön.«

»Mikael, ich habe dich und mich die ganze Zeit angelogen. Ich war niemals besonders freizügig in sexueller Hinsicht. Ich habe in meinem ganzen Leben fünf Sexpartner gehabt. Einmal mit einundzwanzig Jahren, bei meinem ersten Mal. Dann mit meinem Mann, den ich mit fünfundzwanzig kennenlernte und der sich als Ekel herausstellte. Und seitdem einige Male mit drei Typen, die ich im Abstand von ein paar Jahren traf. Aber du hast irgendetwas in mir geweckt. Ich konnte einfach nicht genug kriegen. Das hatte damit zu tun, dass mit dir alles so zwanglos war.«

»Cecilia, du brauchst nicht …«

»Schhhh, unterbrich mich nicht. Sonst kann ich es nicht erzählen.«

Mikael verstummte.

»Der Tag, an dem du ins Gefängnis gingst, war der unglücklichste Tag meines Lebens. Mit einem Mal warst du weg, als ob du nie hier gewesen wärst. Es war dunkel im Gästehäuschen. Es war kalt und leer in meinem Bett. Ganz plötzlich war ich wieder nur eine sechsundfünfzigjährige ältere Frau.«

Sie schwieg einen Moment und blickte Mikael in die Augen.

»Ich habe mich im Winter in dich verliebt. Das hatte ich nicht vor, aber es ist passiert. Und plötzlich wurde mir klar, dass du nur zufällig hier bist und eines Tages für immer fort sein wirst, während ich den Rest meines Lebens hierbleiben werde. Das tat so verflucht weh, dass ich beschloss, dich nicht mehr in mein Haus zu lassen, wenn du aus dem Gefängnis zurückkämst.«

»Das tut mir leid.«

»Es ist nicht dein Fehler.«

Eine Weile blieben sie schweigend sitzen.

»Als du heute Abend wieder gegangen warst, saß ich zu Hause und heulte. Ich wünschte, ich hätte eine Chance, mein Leben noch mal ganz anders zu leben. Dann habe ich etwas beschlossen.«

»Und zwar?«

Sie sah auf die Tischplatte.

»Dass ich völlig verrückt sein müsste, um dich nicht mehr zu treffen, weil du eines Tages wieder von hier wegfährst. Können wir noch mal von vorne anfangen, Mikael? Kannst du vergessen, was heute Abend passiert ist?«

»Schon vergessen«, sagte Mikael. »Aber danke, dass du es mir erzählt hast.«

Sie blickte noch immer auf die Tischplatte.

»Wenn du mich haben willst - ich will furchtbar gerne.«

Plötzlich sah sie ihn wieder richtig an. Dann stand sie auf und ging zur Schlafzimmertür. Im Gehen ließ sie ihre Jacke auf den Boden fallen und zog sich das Kleid über den Kopf.

Mikael und Cecilia wurden gleichzeitig davon wach, dass die Haustür geöffnet wurde und jemand durch die Küche ging. Man hörte ein dumpfes Geräusch, als beim Ofen ein Koffer auf den Boden gestellt wurde. Dann stand plötzlich Erika in der Schlafzimmertür, mit einem Lächeln, das sich sehr schnell in einen erschrockenen Gesichtsausdruck verwandelte.

»Du lieber Himmel.« Sie trat einen Schritt zurück.

»Hallo, Erika«, sagte Mikael.

»Hallo. Entschuldige. Entschuldige bitte, dass ich hier einfach reinplatze. Ich hätte anklopfen sollen.«

»Wir hätten die Tür abschließen sollen. Erika - das hier ist Cecilia Vanger. Cecilia - Erika Berger, Chefredakteurin von Millennium

»Hallo«, sagte Cecilia.

»Hallo«, sagte Erika. Sie sah aus, als könnte sie sich nicht entscheiden, ob sie ins Zimmer kommen und wohlerzogen Hände schütteln oder einfach nur wieder gehen sollte. »Äh, ich … ich kann ja kurz spazieren gehen …«

»Was haltet ihr davon, wenn wir stattdessen einen Kaffee aufsetzen?« Mikael warf einen Blick auf den Wecker auf seinem Nachttischchen. Kurz nach zwölf Uhr mittags.

Erika nickte und zog die Schlafzimmertür wieder zu. Mikael und Cecilia sahen sich an. Cecilia wirkte verlegen. Sie hatten sich bis vier Uhr morgens geliebt und unterhalten. Dann hatte Cecilia verkündet, dass sie bei ihm übernachten wolle und in Zukunft drauf pfeife, wer Bescheid wusste, dass sie mit Mikael fickte. Sie hatte mit dem Rücken zu ihm geschlafen, während er sie in seinen Armen hielt.

»Hey, das ist schon okay«, sagte Mikael. »Erika ist verheiratet, und sie ist nicht meine Freundin. Wir treffen uns ab und zu, aber es ist ihr herzlich egal, ob wir beide was miteinander haben. Es ist ihr wahrscheinlich nur wahnsinnig peinlich.«

Als sie wenig später in die Küche kamen, hatte Erika den Tisch mit Kaffee, Saft, getoastetem Brot und Apfelsinenmarmelade gedeckt. Es duftete gut. Cecilia ging direkt auf sie zu und streckte ihr die Hand entgegen.