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Gottfrieds Häuschen war wesentlich anspruchsloser, als er erwartet hätte. Hierher hatte sich Harriets und Martins Vater also zurückgezogen, als die Ehe mit Isabella Ende der fünfziger Jahre allmählich in die Brüche ging. Hier hatte er gewohnt und gesoffen. Und da unten, irgendwo beim Bootssteg, war er ertrunken.

Das Leben in der Hütte war im Sommer vermutlich recht angenehm gewesen, aber sobald die Temperatur auf null Grad sank, musste es hier eiskalt und erbärmlich sein. Wie er von Henrik wusste, hatte Gottfried seinen Job im Vanger-Konzern bis 1964 weiter ausgeübt - abgesehen von den Phasen, in denen er ohne Hemmungen soff. Dass er es geschafft hatte, mehr oder weniger dauerhaft in diesem Häuschen zu leben und gleichzeitig frisch rasiert, gewaschen und mit Schlips und Jackett in der Arbeit aufzutauchen, zeugte trotz allem von einer gewissen persönlichen Disziplin.

Aber an diesem Ort hatte sich auch Harriet Vanger so oft aufgehalten, dass man, als sie verschwand, hier nach ihr suchte. Henrik hatte berichtet, dass Harriet während des letzten Jahres oft zum Häuschen gegangen war, wahrscheinlich um am Wochenende oder an schulfreien Tagen ihre Ruhe zu haben. In ihrem letzten Sommer hatte sie hier drei Monate lang gewohnt, obwohl sie jeden Tag in die Stadt kam. Hier hatte sie auch ihre Freundin Anita Vanger, Cecilias Schwester, sechs Wochen zu Besuch gehabt.

Was hatte sie hier draußen in der Einsamkeit gemacht? Die Groschenromane und die Kitty-Bücher sprachen eine deutliche Sprache. Vielleicht hatte der Skizzenblock ihr gehört. Aber auch ihre Bibel war hier.

Wollte sie in der Nähe ihres ertrunkenen Vaters sein - eine Trauerphase, die sie durchstehen musste? War die Erklärung so einfach? Oder hatte es mit ihren religiösen Grübeleien zu tun? Das Häuschen war karg und asketisch - hatte sie sich vorgestellt, in einem Kloster zu leben?

Mikael ging das Ufer entlang Richtung Südosten, aber das Gebiet war so voller Felsspalten und Wacholdergestrüpp, dass er kaum vorankam. Er ging wieder zur Hütte und noch ein Stück zurück auf dem Weg Richtung Hedeby. Laut Karte sollte ein Pfad durch den Wald zur sogenannten Befestigung führen; er brauchte zwanzig Minuten, bevor er den überwucherten Weg fand. Die Befestigung war eine Hinterlassenschaft der Truppen, die hier im Zweiten Weltkrieg die Küste verteidigt hatten: mehrere Betonbunker mit einem Schützenwall, und in der Mitte ein Kommandogebäude. Alles war von Dickicht überwuchert.

Mikael ging den Pfad bis zu einem Bootshaus hinunter, das auf einer Lichtung am Meer stand. Dort fand er die Überreste eines Pettersson-Bootes. Er ging zur Befestigung zurück und wählte einen anderen Pfad, bis er an einen Zaun stieß: Er war von hinten an den Östergården gelangt.

Er folgte dem verschlungenen Pfad durch den Wald, teilweise parallel zu einem Acker des Östergården. Es gab ein paar sumpfige Stellen, an denen er sich vorbeischlängeln musste. Schließlich kam er an ein Moor mit einer Scheune. Soweit er sehen konnte, endete der Pfad hier, aber er war nur hundert Meter vom Weg zum Östergården entfernt.

Auf der anderen Seite des Weges lag der Söderberg, der in einer fast senkrechten Klippe am Wasser endete. Mikael folgte dem Hügel zurück Richtung Hedestad. Oberhalb der Siedlung blieb er stehen und genoss den Ausblick vom alten Fischerhafen über die Kirche hinunter bis zu seinem Gästehäuschen. Er setzte sich auf einen flachen Felsen und goss sich einen letzten Schluck lauwarmen Kaffee ein.

Er hatte keine Ahnung, was er in Hedeby eigentlich machte, aber die Aussicht gefiel ihm.

Cecilia Vanger hielt sich von ihm fern, und Mikael wollte nicht aufdringlich sein. Nach einer Woche ging er jedoch zu ihr und klopfte. Sie ließ ihn herein und setzte Kaffee auf.

»Du musst mich für völlig albern halten; eine sechsundfünfzigjährige gestandene Lehrerin, die sich wie ein Teenager aufführt.«

»Du bist ein erwachsener Mensch und kannst tun, was immer du willst, Cecilia.«

»Ich weiß. Und deswegen habe ich beschlossen, dich nicht mehr zu treffen. Ich komme nicht damit zurecht, dass …«

»Du bist mir keine Erklärung schuldig. Ich hoffe, wir bleiben trotzdem noch Freunde.«

»Das möchte ich gerne. Aber ein Verhältnis mit dir, das schaffe ich nicht. Affären waren noch nie meine Sache. Ich will wohl einfach eine Weile meine Ruhe haben.«

16. Kapitel

Sonntag, 1. Juni - Dienstag, 10. Juni

Nach einem halben Jahr erfolgloser Grübeleien gab es einen ersten Hoffnungsschimmer im Fall Harriet Vanger. Mikael entdeckte innerhalb weniger Tage in der ersten Juniwoche drei neue Puzzleteile. Zwei von ihnen fand er allein, beim dritten hatte er Hilfe.

Nach Erikas Besuch hatte er das Fotoalbum aufgeschlagen, stundenlang ein Bild nach dem anderen angeschaut und sich zu erinnern versucht, worauf er beim letzten Mal unbewusst reagiert hatte. Schließlich legte er alles beiseite und arbeitete stattdessen an der Familienchronik weiter.

Ein paar Tage später saß Mikael gerade im Bus und dachte an etwas völlig anderes, als der Fahrer in die Bahnhofstraße einbog. Ihm wurde mit einem Schlag klar, was ihm die ganze Zeit im Hinterkopf herumgespukt hatte. Er war so perplex, dass er bis zur Endhaltestelle am Bahnhofsplatz sitzen blieb, und dann sofort nach Hedeby zurückfuhr, um zu prüfen, ob er sich richtig erinnert hatte.

Es war das allererste Bild im Album und zugleich das letzte Bild von Harriet Vanger. Es war auf der Bahnhofstraße in Hedestad aufgenommen worden, wo sie dem Umzug anlässlich des »Tages des Kindes« zugesehen hatte.

Das Bild unterschied sich von den übrigen Fotos. Es war am selben Tag aufgenommen worden, aber es zeigte als einziges von knapp hundertachtzig Bildern nicht den Unfall.

Das Bild war von der anderen Straßenseite aus aufgenommen worden, wahrscheinlich aus einem Fenster im ersten Stock. Das Weitwinkelobjektiv hatte die Front eines Lastwagens im Festzug eingefangen. Auf der Ladefläche standen Frauen in glitzernden Badeanzügen und Haremshosen und warfen Bonbons ins Publikum. Vor dem Lastwagen hüpften drei Clowns herum.

Harriet stand in der ersten Reihe auf dem Bürgersteig. Neben ihr standen drei Klassenkameraden und um sie herum mindestens hundert andere Einwohner von Hedestad.

Das Publikum verhielt sich, wie sich ein Publikum verhalten soll. Diejenigen, die am weitesten links standen, konzentrierten sich auf die Ladefläche mit den leicht bekleideten Mädchen. Sie sahen vergnügt aus. Kinder zeigten mit dem Finger. Ein paar lachten. Alle wirkten fröhlich.

Alle bis auf eine.

Harriet blickte zur Seite. Ihre drei Schulkameraden und alle in ihrer Nähe schauten auf die Clowns. Harriets Gesicht war fast 30 oder 35 Grad weiter nach rechts gerichtet. Ihr Blick schien an irgendetwas auf der anderen Straßenseite hängen geblieben zu sein, was außerhalb des Bildausschnitts lag.

Mikael holte ein Vergrößerungsglas und versuchte, die Details auszumachen. Das Bild war aus zu großem Abstand aufgenommen worden, als dass er ganz sicher hätte sein können, aber im Gegensatz zu den Umstehenden schien in Harriets Gesicht kein Leben zu sein. Ihr Mund war ein schmaler Strich. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Ihre Hände hingen schlaff an ihr herab.

Sie sah verängstigt aus. Verängstigt oder zornig.

Mikael löste das Bild aus dem Album heraus, steckte es in eine Plastikhülle und nahm den nächsten Bus zurück nach Hedestad. Er stieg in der Bahnhofstraße aus und stellte sich auf den Platz, von dem aus das Foto geschossen worden sein musste. Es war genau am Rande des Zentrums von Hedestad. Dort stand ein zweistöckiges Holzgebäude, in dem eine Videothek und Sundströms Herrenmode untergebracht war - seit 1932, wie eine Plakette an der Eingangstür verkündete. Er betrat das Geschäft und bemerkte sofort, dass es sich über zwei Etagen erstreckte; eine Wendeltreppe führte ins Obergeschoss.