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Am Ende der Wendeltreppe hatte man durch zwei Fenster Ausblick auf die Straße. Hier hatte der Fotograf gestanden.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte ein älterer Verkäufer, als Mikael die Plastikhülle mit dem Foto herausholte. Es waren nur wenige Kunden im Laden.

»Ich würde gern wissen, von wo aus dieses Bild aufgenommen wurde. Ist es in Ordnung, wenn ich das Fenster mal ganz kurz aufmache?«

Man erlaubte es ihm, und er hielt das Bild vor sich in die Höhe. Er konnte exakt die Stelle ausmachen, an der Harriet siebenunddreißig Jahre zuvor gestanden hatte. Das eine der zwei Holzgebäude, die man hinter ihr erkennen konnte, war verschwunden und durch ein Ziegelhaus ersetzt worden. In dem anderen, das noch stand, hatte sich 1966 ein Schreibwarenladen befunden. Nun waren dort ein Bio-Laden und ein Solarium. Mikael schloss das Fenster, bedankte sich und bat um Entschuldigung für die Störung.

Unten auf der Straße stellte er sich exakt dorthin, wo Harriet gestanden hatte. Er wandte den Kopf und nahm Harriets Blickrichtung ein. Soweit Mikael abschätzen konnte, hatte sie genau zu der Ecke des Gebäudes geschaut, in dem sich Sundströms Herrenmode befand. Es war eine ganz gewöhnliche Hausecke, an der eine Querstraße abzweigte. Was hast du vor siebenunddreißig Jahren dort gesehen, Harriet?

Mikael steckte das Bild wieder in seine Umhängetasche und ging zum Park am Bahnhof, wo er sich draußen in ein Café setzte und einen Milchkaffee bestellte. Er war auf einmal ganz aufgewühlt.

Plötzlich hatte er etwas völlig Neues entdeckt, was bei den Ermittlungen, die seit siebenunddreißig Jahren auf der Stelle traten, bisher keine Rolle gespielt hatte.

Er war sich nur nicht sicher, wie wertvoll seine neuen Erkenntnisse waren, wenn sie denn überhaupt einen Wert hatten. Trotzdem empfand er es als bedeutsam.

Der Septembertag, an dem Harriet verschwand, war in vieler Hinsicht dramatisch gewesen. In Hedestad war ein Festtag mit sicherlich mehreren tausend Menschen auf der Straße, jungen wie alten. Auf der Hedeby-Insel hatte das jährliche Familientreffen stattgefunden. Schließlich war natürlich noch der Unfall mit dem Tanklaster dazugekommen, der alles andere überschattete.

Kommissar Morell, Henrik Vanger und alle anderen, die sich den Kopf über Harriets Verschwinden zerbrachen, hatten sich auf die Ereignisse auf der Insel konzentriert. Morell hatte sogar geschrieben, er komme nicht von dem Verdacht los, dass der Unfall und Harriets Verschwinden in Beziehung zueinander standen. Mikael war auf einmal davon überzeugt, dass diese Annahme falsch war.

Die Ereigniskette hatte nicht auf der Hedeby-Insel ihren Anfang genommen, sondern schon mehrere Stunden zuvor im Stadtzentrum von Hedestad. Harriet hatte etwas gesehen, das sie erschreckt hatte. Sie fuhr sofort nach Hause und wollte mit Henrik sprechen, der aber leider keine Zeit für sie hatte. Dann passierte der Unfall auf der Brücke. Und dann schlug der Mörder zu.

Mikael machte eine Pause. Allmählich wurde ihm klar, dass er sich Henrik Vangers Überzeugung angeschlossen hatte. Harriet war tot, und nun jagte er einen Mörder. Er wandte sich wieder dem Untersuchungsbericht zu. Von all den tausend Seiten handelte nur ein Bruchteil von den Stunden in Hedestad. Harriet war mit drei Klassenkameraden zusammen gewesen, die alle zu ihren Beobachtungen vernommen worden waren. Sie hatten sich um neun Uhr morgens am Bahnhofspark getroffen. Eines der Mädchen wollte sich eine Jeans kaufen, und ihre Freunde hatten sie begleitet. Sie hatten im Restaurant des EPA-Kaufhauses Kaffee getrunken, waren danach zum Sportplatz gegangen, zwischen Jahrmarktsbuden und Fischteichen herumgeschlendert und hatten weitere Mitschüler getroffen. Nach zwölf Uhr waren sie wieder in die Innenstadt zurückgekehrt, um dem Festzug zuzuschauen. Kurz vor zwei Uhr nachmittags hatte Harriet plötzlich verkündet, dass sie nach Hause fahren müsse. An der Bushaltestelle bei der Bahnhofstraße hatten sie sich getrennt.

Keinem ihrer Freunde war etwas Ungewöhnliches aufgefallen. Eine von ihnen, Inger Stenberg, hatte behauptet, Harriet sei im letzten Jahr sehr »unpersönlich« geworden. Am Tag ihres Verschwindens sei sie so still wie immer gewesen und den anderen meistens hinterhergelaufen.

Kommissar Morell hatte alle Menschen vernommen, die Harriet an jenem Tag begegnet waren, auch wenn sie sich nur auf dem Festplatz gegrüßt hatten. Ihr Foto war später in den Lokalzeitungen erschienen. Mehrere Einwohner von Hedestad hatten sich bei der Polizei gemeldet, weil sie glaubten, Harriet gesehen zu haben, aber keiner hatte etwas Ungewöhnliches bemerkt.

Mikael grübelte den ganzen Abend darüber nach, wie er seine neue Idee am besten weiterverfolgen könnte. Am Vormittag ging er zu Henrik Vanger, den er am Frühstückstisch antraf.

»Sie sagten doch, dass die Familie Vanger immer noch Anteile am Hedestads-Kuriren hat.«

»Das stimmt.«

»Ich brauche Zugang zum Bildarchiv der Zeitung.«

Henrik Vanger stellte sein Milchglas ab und trocknete sich die Oberlippe ab.

»Worauf sind Sie gestoßen, Mikael?«

Er sah dem alten Mann in die Augen.

»Nichts Konkretes. Aber ich glaube, wir könnten den Lauf der Ereignisse falsch gedeutet haben.«

Er zeigte ihm das Foto und erzählte von seinen Schlussfolgerungen. Henrik Vanger verstummte.

»Wenn ich recht habe, müssen wir uns darauf konzentrieren, was an diesem Tag in Hedestad passiert ist, nicht nur auf der Hedeby-Insel«, sagte Mikael. »Ich weiß nicht, wie man das nach siebenunddreißig Jahren anstellen soll, aber bei der Feier zum ›Tag des Kindes‹ müssen viele Bilder aufgenommen worden sein, die nie veröffentlicht wurden. Und diese Bilder will ich sehen.«

Henrik Vanger benutzte das Telefon in der Küche. Er rief Harriets Bruder Martin an, erklärte ihm sein Anliegen und fragte, wer nun Chef der Bildredaktion des Kuriren sei. Innerhalb von zehn Minuten waren die richtigen Personen ausfindig gemacht und die Genehmigung erteilt.

Die Chefin der Bildredaktion hieß Madeleine Blomberg, wurde Maja genannt und war schon über sechzig. Sie war der erste weibliche Chef einer Bildredaktion, dem Mikael in seiner Laufbahn begegnet war. Im Zeitungswesen wurde die Kunst der Fotografie gerne als männliche Domäne angesehen.

Am Samstag war zwar niemand in der Redaktion, aber wie sich herausstellte, wohnte Maja Blomberg nur fünf Gehminuten von ihr entfernt. Sie traf sich mit Mikael am Eingang. Sie hatte die meiste Zeit ihres Lebens für den Hedestads-Kuriren gearbeitet. 1964 hatte sie als Korrektorin angefangen, war dann Kopistin geworden und hatte einige Jahre in der Dunkelkammer gearbeitet. Gleichzeitig hatte man sie immer auf Fototermine geschickt, wenn das reguläre Personal nicht mehr ausreichte. Langsam, aber sicher hatte sie sich den Titel einer Redakteurin erworben, und zehn Jahre später, als der alte Chef in Pension ging, übernahm sie die Leitung der Bildredaktion. Hinter dieser Position verbarg sich kein allzu großes Imperium. Die Bildredaktion war seit zehn Jahren mit der Anzeigenabteilung zusammengelegt und bestand aus nur sechs Personen, die sich alle untereinander bei ihrer Arbeit abwechselten.

Mikael fragte, wie das Bildarchiv organisiert sei.

»Um ehrlich zu sein, das Archiv ist ziemlich unübersichtlich. Seit wir Computer und Bilddateien haben, ist alles auf CDs archiviert worden. Wir hatten hier einen Praktikanten, der wichtige ältere Bilder eingescannt hat, aber es sind nur ein paar Prozent des Archivbestands. Ältere Bilder finden Sie nach Datum sortiert in Negativ-Ordnern. Sie sind entweder hier in der Redaktion oder oben auf dem Dachboden.«

»Ich interessiere mich vor allem für die Bilder vom ›Tag des Kindes‹ 1966 und insgesamt für alle Bilder, die in dieser Woche aufgenommen worden sind.«