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Er schätzte ihre Größe im Verhältnis zum Fenster, die Frau musste ungefähr 1 Meter 70 groß sein.

Als er die anderen Bilder vom Brückenunfall durchklickte, bemerkte er, dass eine Person sehr gut mit den Merkmalen übereinstimmte, die er aus dem Foto herausgelesen hatte - die zwanzigjährige Cecilia Vanger.

Kurt Nylund hatte insgesamt achtzehn Bilder vom Fenster im ersten Stock bei Sundströms Herrenmode aufgenommen. Auf siebzehn von ihnen war Harriet Vanger zu sehen.

Harriet und ihre Schulfreunde waren gerade auf der Bahnhofstraße angekommen, als Nylund anfing zu fotografieren. Mikael schätzte, dass die Bilder in einem Zeitraum von knapp fünf Minuten aufgenommen worden waren. Auf dem ersten Bild gingen Harriet und ihre Freunde die Straße hinunter. Auf den Bildern 2 bis 7 standen sie da und sahen dem Festzug zu. Danach waren sie ungefähr sechs Meter weiter gegangen. Auf dem letzten Bild, das wahrscheinlich etwas später gemacht worden war, war die ganze Gruppe verschwunden.

Mikael bearbeitete eine Serie Bilder, indem er die obere Hälfte von Harriet ausschnitt und möglichst große Kontraste herausarbeitete. Er legte die Bilder in einen bestimmten Ordner, öffnete das Graphic-Converter-Programm und startete die Bildpräsentation. Der Effekt war der eines ruckartig ablaufenden Stummfilms, bei dem jedes Bild zwei Sekunden lang gezeigt wird.

Harriet kommt an, Aufnahme im Profil. Harriet bleibt stehen und blickt die Straße hinunter. Harriet dreht das Gesicht zur Straße. Harriet öffnet den Mund, um etwas zu einer Freundin zu sagen. Harriet lacht. Harriet fasst sich mit der linken Hand ans Ohr. Harriet lächelt. Harriet sieht plötzlich überrascht aus, ihr Gesicht ist auf einen Fleck ungefähr zwanzig Grad links neben der Kamera gerichtet. Harriet reißt die Augen auf und hört auf zu lachen. Harriets Mund wird zu einem schmalen Strich. Harriet schaut genau hin. In ihrem Gesicht sieht man … was? Schmerz, Schock, Zorn? Harriet schlägt die Augen nieder. Harriet ist weg.

Mikael spielte die Sequenz immer und immer wieder ab.

Sie bekräftigte sehr deutlich die Theorie, die er aufgestellt hatte. Irgendetwas geschah auf der Bahnhofstraße in Hedestad.

Sie sieht etwas - jemanden? - auf der anderen Straßenseite. Sie reagiert schockiert. Später bittet sie Henrik Vanger um ein persönliches Gespräch, aus dem nie etwas wird. Danach verschwindet sie spurlos.

Irgendetwas war an jenem Tag geschehen. Aber die Bilder verrieten nicht, was.

Am Dienstagmorgen um zwei kochte Mikael sich einen Kaffee und machte sich zwei belegte Brote, die er auf dem Küchensofa verzehrte. Er war zugleich mutlos und erregt. Er hatte gegen seine eigenen Erwartungen neues Beweismaterial gefunden. Das Problem war nur, dass diese Beweise die Kette der Ereignisse zwar in einem ganz neuen Licht erscheinen ließen, ihn der Lösung des Rätsels aber keinen Millimeter näher brachten.

Er dachte intensiv darüber nach, was für eine Rolle Cecilia in diesem Drama gespielt haben mochte. Henrik Vanger hatte ohne Rücksichten das Tun aller anwesenden Personen genau aufgezeichnet, auch bei Cecilia hatte er keine Ausnahme gemacht. 1966 wohnte sie in Uppsala, war aber zwei Tage vor dem unseligen Samstag nach Hedestad gekommen. Sie hatte in einem Gästezimmer bei Isabella Vanger gewohnt. Sie behauptete, Harriet frühmorgens einmal gesehen, aber nicht mit ihr gesprochen zu haben. Am Samstag war sie für irgendeine Erledigung nach Hedestad gefahren. Sie hatte Harriet nicht gesehen und war gegen eins auf die Insel zurückgekehrt, ungefähr zur selben Zeit, als Kurt Nylund auf der Bahnhofstraße seine Bilderserie schoss. Sie hatte sich umgezogen und gegen zwei geholfen, den Tisch für das große Familienessen zu decken.

Als Alibi war das ziemlich vage. Die Zeitpunkte waren ungefähr angegeben, besonders bei der Frage, wann sie auf die Insel zurückgekommen war, aber Henrik hatte niemals einen Hinweis darauf gefunden, dass sie gelogen hatte. Cecilia gehörte zu den Menschen in seiner Verwandtschaft, die er am liebsten mochte. Außerdem war sie Mikaels Geliebte. Er tat sich daher schwer, objektiv zu bleiben, und er konnte sie sich beim besten Willen nicht als Mörderin vorstellen.

Jetzt ließ ein aussortiertes Bild ahnen, dass sie gelogen hatte, als sie behauptete, Harriets Zimmer nie betreten zu haben. Daraus ergab sich eine gewisse Schlussfolgerung, die Mikael nicht gefiel.

Wenn du in dieser Frage gelogen hast, wo hast du dann noch gelogen?

Mikael fasste im Geiste zusammen, was er über Cecilia wusste. Er sah sie als eine recht zurückhaltende Person, die offensichtlich von ihrer Vergangenheit geprägt war, was zur Folge hatte, dass sie allein lebte, weitgehend auf Sex verzichtete und Schwierigkeiten hatte, sich anderen zu nähern. Sie blieb auf Distanz, und wenn sie einen Mann an sich heranließ, dann suchte sie sich einen wie Mikael aus, einen Fremden, der nur zeitweilig zu Besuch war. Cecilia hatte behauptet, das Verhältnis beendet zu haben, weil sie nicht mit dem Gedanken leben konnte, dass er jederzeit plötzlich aus ihrem Leben verschwinden konnte. Mikael glaubte, dass sie es nur aus diesem Grunde gewagt hatte, den ersten Schritt zu tun. Da er nur vorübergehend da war, musste sie nicht befürchten, dass er ihr Leben dramatisch veränderte. Er seufzte und ließ die Hobbypsychologie auf sich beruhen.

Die zweite Entdeckung machte er spät in der Nacht. Der Schlüssel zum Rätsel - davon war er restlos überzeugt - lag in dem, was Harriet auf der Bahnhofstraße in Hedestad gesehen hatte. Mikael würde es nie herausfinden, es sei denn, er könnte eine Zeitmaschine erfinden, sich hinter sie stellen und ihr über die Schulter blicken.

Als ihm dieser Gedanken durch den Kopf ging, schlug er sich mit der flachen Hand vor die Stirn und stürzte zurück zu seinem iBook. Er klickte die unbearbeiteten Bilder von der Bahnhofstraße an und schaute … da!

Hinter Harriet, ungefähr einen Meter weiter rechts, stand ein junges Paar, er im gestreiften Pullover, sie mit einer hellen Jacke. Sie hatte eine Kamera in der Hand. Als Mikael das Bild vergrößerte, konnte er erkennen, dass es eine Kodak Instamatic mit automatischem Blitz war - eine billige Urlaubskamera für Leute, die nicht fotografieren können.

Die Frau hielt die Kamera auf Kinnhöhe. Dann hob sie sie und fotografierte die Clowns, und zwar genau in dem Moment, als sich Harriets Gesichtsausdruck veränderte.

Mikael verglich die Position der Kamera mit Harriets Blickrichtung. Die Frau hatte den Sucher fast exakt in die Richtung gehalten, in die Harriet blickte.

Mikael merkte plötzlich, dass er heftiges Herzklopfen hatte. Er lehnte sich zurück und fummelte seine Zigarettenschachtel aus der Brusttasche. Jemand hatte ein Foto gemacht. Aber wie sollte er diese Frau identifizieren? Wie sollte er an ihr Foto herankommen? War der Film überhaupt entwickelt worden, und wenn ja, wurde das Bild noch irgendwo aufbewahrt?

Mikael öffnete die Mappe mit den Bildern, die Nylund an jenem Festtag von der wimmelnden Menschenmenge gemacht hatte. In der folgenden Stunde vergrößerte er jedes Bild und suchte es Quadratzentimeter für Quadratzentimeter ab. Erst auf dem allerletzten Foto fand er das Paar wieder. Nylund hatte noch einen Clown mit Luftballons in der Hand aufgenommen, der sein Dauerlachen in die Kamera hielt. Das Foto war auf dem Parkplatz vor dem Eingang zum Sportplatz gemacht worden, wo die Festlichkeiten weitergingen. Es musste vor zwei Uhr gewesen sein - danach war Nylund ja zum Unfall mit dem Tanklaster abkommandiert worden und hatte den »Tag des Kindes« nicht weiter verfolgt.

Die Frau war fast ganz verdeckt, aber der Mann im gestreiften Pullover war deutlich im Profil zu sehen. Er hatte Schlüssel in der Hand und beugte sich gerade vor, um eine Autotür zu öffnen. Der Clown stand im Vordergrund, und das Auto hinter ihm war ein wenig verschwommen. Das Nummernschild war nicht vollständig zu erkennen, aber es begann mit AC3…

Die Nummernschilder begannen in den sechziger Jahren mit den Kennbuchstaben des jeweiligen Verwaltungsbezirks, und Mikael hatte als Kind gelernt, die Herkunft von Autos anhand dieser Buchstaben zu identifizieren. AC war das Kennzeichen für Västerbotten.