»Also, wie war’s denn jetzt eigentlich?«
»Was?«
»Das Gefängnis.«
Mikael lachte.
»Würdest du mir glauben, wenn ich dir sage, dass es wie ein bezahlter Urlaub war, wo ich wunderbar nachdenken und schreiben konnte?«
»Absolut. Ich glaube nicht, dass zwischen einem Gefängnis und einem Kloster ein großer Unterschied besteht, und die Leute sind immer ins Kloster gegangen, wenn sie sich weiterentwickeln wollten.«
»Tja, so kann man das wohl auch sehen. Ich hoffe, du hattest keine Probleme damit, dass dein Papa ein berüchtigter Gefängnisinsasse ist?«
»Überhaupt nicht. Ich bin stolz auf dich und lasse keine Gelegenheit aus, um damit anzugeben, dass du für das gesessen hast, woran du glaubst.«
»Woran ich glaube?«
»Ich habe Erika Berger im Fernsehen gesehen.«
Mikael wurde blass. Er hatte keinen einzigen Gedanken an seine Tochter verschwendet, als Erika ihre Strategie ausgearbeitet hatte, und Pernilla schien zu glauben, dass ihn nicht die geringste Schuld traf.
»Pernilla, ich war nicht unschuldig. Es tut mir leid, dass ich dir die Hintergründe nicht erklären kann, aber ich wurde rechtmäßig verurteilt. Das Gericht hat sein Urteil auf der Basis der Tatsachen, die im Prozess dargelegt wurden, gefällt.«
»Aber du hast niemals deine Version erzählt.«
»Nein, weil ich sie nicht beweisen kann. Ich habe einen Mordsschnitzer gemacht, und deswegen musste ich ins Gefängnis.«
»Okay. Dann beantworte mir die Frage: Ist Wennerström ein Verbrecher oder nicht?«
»Er ist einer der übelsten Verbrecher, die mir jemals über den Weg gelaufen sind.«
»Na also. Das reicht mir. Ich habe ein Geschenk für dich.«
Sie holte ein Päckchen aus ihrem Koffer. Mikael machte es auf und fand eine Best-of-CD der Eurhythmics. Sie wusste, dass das eine seiner alten Lieblingsbands war. Er umarmte sie, legte die CD sofort in sein iBook ein, und sie hörten sich zusammen Sweet Dreams an.
»Was willst du eigentlich in Skellefteå?«, fragte Mikael.
»Sommerlager mit Bibelschule. Die Vereinigung heißt Licht des Lebens«, gab Pernilla zur Auskunft, als wäre es das Selbstverständlichste in der Welt.
Mikael spürte, wie sich ihm die Nackenhaare aufstellten.
Er erkannte, wie sehr sich seine Tochter und Harriet ähnelten. Pernilla war sechzehn, genau wie Harriet, als sie verschwand. Beiden fehlte die Vaterfigur in ihrem täglichen Leben. Beide neigten zu religiöser Schwärmerei und schlossen sich befremdlichen Sekten an, Harriet der städtischen Pfingstversammlung und Pernilla einer Vereinigung, die vermutlich ebenso verrückt war wie die populäre, aber eben doch sektenartige Bewegung Licht des Lebens.
Mikael wusste nicht recht, wie er mit ihrem neu erwachten Interesse für Religion umgehen sollte. Er hatte Angst, sich unsensibel einzumischen und sie einzuschränken in ihrem Recht, selbst zu entscheiden, welchen Weg sie im Leben gehen wollte.
Gleichzeitig war Licht des Lebens jedoch ohne Zweifel eine religiöse Vereinigung von der Sorte, über die Erika und er nur zu gerne eine polemische Reportage in Millennium veröffentlichen würden. Er beschloss, die Frage bei nächster Gelegenheit mit Pernillas Mutter zu besprechen.
Pernilla schlief in Mikaels Bett, während er sich in der Nacht aufs Sofa in der Küche legte. Er wachte mit steifem Nacken und schmerzenden Muskeln auf. Pernilla wollte ihre Reise möglichst schnell fortsetzen, also machte Mikael Frühstück und brachte sie dann zum Bahnhof. Sie hatten noch ein bisschen Zeit, kauften sich im Zeitschriftenladen in der Bahnhofshalle zwei Becher Kaffee, setzten sich auf eine Bank am Ende des Bahnsteigs und redeten über alles Mögliche. Kurz bevor der Zug kam, wechselte sie das Thema.
»Es gefällt dir nicht, dass ich nach Skellefteå fahre«, stellte sie plötzlich fest.
Mikael wusste nicht recht, was er antworten sollte.
»Das ist nichts Gefährliches. Aber du bist kein Christ, oder?«
»Nein, zumindest bin ich kein guter Christ.«
»Glaubst du nicht an Gott?«
»Nein, ich glaube nicht an Gott, aber ich respektiere, dass du es tust. Alle Menschen brauchen etwas, woran sie glauben können.«
Als ihr Zug einfuhr, umarmten sie sich lange und innig, bis Pernilla einsteigen musste. Auf dem Weg in den Zug drehte sie sich noch einmal um.
»Papa, ich will nicht missionieren. Von mir aus kannst du glauben, woran du willst, und ich werde dich immer lieben. Aber ich denke, dass auch du deine Bibelstudien fortsetzen solltest.«
»Was meinst du damit?«
»Ich habe das Zitat bei dir an der Wand gesehen«, sagte sie. »Aber warum so düster und neurotisch? Küsschen. Mach’s gut.«
Sie winkte ihm zu und verschwand. Mikael blieb perplex auf dem Bahnsteig stehen und sah den Zug Richtung Norden davonrollen. Erst als er um die Kurve verschwand, wurde ihm die Bedeutung ihrer Abschiedsworte klar, und in seiner Brust machte sich Eiseskälte breit.
Mikael rannte aus dem Bahnhof und sah auf die Uhr. In vierzig Minuten fuhr der Bus nach Hedeby. Er hatte nicht die Nerven, so lange zu warten.
Er trabte zum Taxistand auf der anderen Seite des Bahnhofsplatzes und fand Hussein mit dem norrländischen Dialekt.
Zehn Minuten später bezahlte Mikael sein Taxi und ging sofort in sein Arbeitszimmer. Er hatte den Zettel über seinem Schreibtisch aufgehängt.
Er sah sich im Zimmer um. Dann fiel ihm ein, wo er eine Bibel finden würde. Er steckte den Zettel ein, suchte die Schlüssel heraus, die er in eine Schale auf dem Fensterbrett gelegt hatte, und joggte den ganzen Weg bis zu Gottfrieds Häuschen. Seine Hände zitterten, als er Harriets Bibel aus dem Regal nahm.
Harriet hatte keine Telefonnummern notiert. Die Ziffern gaben Kapitel und Vers in Levitikus, im Dritten Buch Mose, an. Die Strafgesetzgebung.
(Magda) Drittes Buch Mose, Kapitel 20, Vers 16:
Wenn eine Frau sich irgendeinem Tier naht, um mit ihm Umgang zu haben, so sollst du sie töten und das Tier auch. Des Todes sollen sie sterben, und ihre Blutschuld komme über sie.
(Sara) Drittes Buch Mose, Kapitel 21, Vers 9:
Wenn eines Priesters Tochter sich durch Hurerei entheiligt, so soll man sie mit Feuer verbrennen, denn sie hat ihren Vater entheiligt.
(RJ) Drittes Buch Mose, Kapitel 20, Vers 27:
Wenn ein Mann oder eine Frau Geister beschwören oder Zeichen deuten kann, so sollen sie des Todes sterben; man soll sie steinigen; ihre Blutschuld komme über sie.
(RL) Drittes Buch Mose, Kapitel 1, Vers 12:
Und er zerlege es in seine Stücke, und der Priester soll sie samt dem Kopf und dem Fett auf das Holz über dem Feuer legen, das auf dem Altar ist.
(Mari) Drittes Buch Mose, Kapitel 20, Vers 18:
Wenn ein Mann bei einer Frau liegt zur Zeit ihrer Tage und mit ihr Umgang hat und so den Brunnen ihres Blutes aufdeckt und sie den Brunnen ihres Blutes aufdeckt, so sollen sie beide aus ihrem Volk ausgerottet werden.
Mikael ging hinaus und setzte sich auf den Treppenabsatz vorm Haus. Es gab gar keinen Zweifeclass="underline" Dies hatte Harriet gemeint, als sie die Ziffern in ihr Adressbuch geschrieben hatte. Jedes der Zitate war in ihrer Bibel sorgfältig unterstrichen. Er zündete sich eine Zigarette an und lauschte dem Gesang der Vögel in der Nähe.
Er hatte die Ziffern. Aber er hatte keine Namen. Magda, Sara, Mari, RJ und RL. Da machte sein Gehirn einen intuitiven Sprung, und mit einem Schlag tat sich ein Abgrund vor ihm auf. Er erinnerte sich an das Brandopfer in Hedestad, von dem Kommissar Morell erzählt hatte. Der Fall Rebecka, irgendwann in den späten vierziger Jahren, das Mädchen, das vergewaltigt und dann ermordet worden war, indem man ihren Kopf auf glühende Kohlen legte. Und er zerlege es in seine Stücke, und der Priester soll sie samt dem Kopf und dem Fett auf das Holz über dem Feuer legen, das auf dem Altar ist. Rebecka. RJ. Wie hatte sie mit Nachnamen geheißen?