»Ich verstehe. Was wollen Sie tun?«
Mikael stand auf und drehte eine Runde in der Küche.
»Als Erstes will ich die Spur mit dem Foto verfolgen. Wenn wir sehen, was Harriet gesehen hat … ich glaube, das könnte ein Schlüssel zu den Ereignissen sein. Das bedeutet zum Zweiten, dass ich ein Auto brauche, damit ich nach Norsjö fahren und die Spur weiterverfolgen kann. Und drittens will ich den Bibelzitaten nachgehen. Wir haben bislang ein Zitat mit einem abscheulichen Mord in Verbindung bringen können. Bleiben noch vier Zitate. Um das zu leisten … brauche ich eigentlich Hilfe.«
»Was für Hilfe?«
»Ich brauche einen Mitarbeiter, der Recherchen betreibt. Er müsste sich durch alte Pressearchive wühlen und Magda und Sara und die anderen Namen finden. Wenn es so ist, wie ich glaube, dann war Rebecka nicht das einzige Opfer.«
»Sie wollen also noch jemand einweihen …«
»Es ist plötzlich so ein riesiger Berg Recherchearbeit zu bewältigen. Wenn ich Kommissar in laufenden Ermittlungen wäre, dann könnte ich Zeit und Personal einteilen und die Leute für mich recherchieren lassen. Ich brauche einen Profi, der sich mit Archivarbeit auskennt und zugleich zuverlässig ist.«
»Ich verstehe … Tatsächlich kenne ich eine kompetente Ermittlerin. Sie hat Ihren persönlichen Hintergrund für uns recherchiert«, rutschte es Frode heraus, bevor er sich auf die Zunge beißen konnte.
»Wer hat was recherchiert?«, fragte Mikael Blomkvist scharf.
Frode wusste, dass er sich verplappert hatte. Ich werde alt, dachte er.
»Ich habe nur laut gedacht. Das hatte gar nichts zu bedeuten«, versuchte er sich herauszureden.
»Sie haben Recherchen zu meiner Person in Auftrag gegeben?«
»Nichts Dramatisches, Mikael. Wir wollten Sie anstellen und haben vorher überprüft, mit was für einem Menschen wir es zu tun haben.«
»Deswegen scheint Henrik mich also so gut einschätzen zu können. Wie gründlich war der Bericht?«
»Der war ziemlich gründlich.«
»Kam die Geschichte mit Millennium auch darin vor?«
Frode zuckte die Schultern. »Das war damals gerade aktuell.«
Mikael zündete sich eine Zigarette an. Es war seine fünfte an diesem Tag. Ihm war klar, dass ihm das Rauchen schon wieder zur schlechten Angewohnheit wurde.
»Ein schriftlicher Bericht?«
»Mikael, das ist nichts gewesen, woran man sich jetzt festbeißen müsste.«
»Ich will den Bericht lesen«, verlangte er.
»Bitte, das war wirklich nichts Besonderes. Wir wollten Sie nur überprüfen, bevor wir Sie anstellen.«
»Ich will den Bericht lesen«, wiederholte er.
»Dazu kann nur Henrik die Erlaubnis geben.«
»Ach, tatsächlich? Dann machen wir’s doch einfach so: Ich will den Bericht innerhalb der nächsten Stunde in der Hand haben. Wenn ich ihn nicht bekomme, kündige ich auf der Stelle und nehme den Abendzug nach Stockholm. Wo ist der Bericht?«
Dirch Frode und Mikael Blomkvist maßen sich ein paar Sekunden mit Blicken. Dann seufzte Frode und schlug die Augen nieder.
»In meinem Arbeitszimmer, zu Hause.«
Der Fall Harriet Vanger war zweifellos die bizarrste Geschichte, mit der Mikael jemals zu tun gehabt hatte. Überhaupt war das letzte Jahr von dem Moment an, als er die Story über Hans-Erik Wennerström veröffentlichte, eine einzige Achterbahnfahrt gewesen, und er hatte sich wie im freien Fall gefühlt. Und anscheinend war es damit noch nicht vorbei.
Frode zierte sich noch ewig. Erst um sechs Uhr abends hielt Mikael Salanders Bericht in der Hand. Er war knapp achtzig Seiten stark, dazu kamen hundert Seiten Kopien von Artikeln, Zeugnissen und andere Belege, die ein Licht auf verschiedene Facetten von Mikaels Leben warfen.
Es war seltsam, etwas über sich selbst zu lesen, das einer Kombination aus Autobiografie und geheimdienstlichem Bericht gleichkam. Mikaels Erstaunen wuchs immer mehr, als er sah, wie detailliert der Bericht war. Lisbeth Salander hatte zielsicher so manches zutage gefördert, wovon er geglaubt hatte, es sei schon längst auf dem Komposthaufen der Geschichte gelandet. Sie hatte zum Beispiel eine alte Affäre ausgegraben, die er als junger Mann mit einer flammenden Gewerkschaftsanhängerin gehabt hatte, die nun Vollzeitpolitikerin war. Mit wem um alles in der Welt hat sie da nur gesprochen? Sie war auf seine Rockband Bootstrap gestoßen, an die sich heutzutage wohl kaum noch ein Mensch erinnern dürfte. Sie hatte seine finanziellen Verhältnisse bis ins kleinste Detail untersucht. Wie zum Teufel hat sie das angestellt?
Als Journalist hatte Mikael über die Jahre gelernt, Informationen aus Personen herauszulocken, und aus rein beruflichen Gründen konnte er die Qualität dieses Berichts beurteilen. Seines Erachtens gab es keinen Zweifel, dass Lisbeth Salander teuflisch gut darin war, Informationen zutage zu fördern. Er bezweifelte, dass er selbst einen entsprechenden Bericht über einen ihm völlig unbekannten Menschen zustande gebracht hätte.
Mikael bemerkte auch, dass es keinen Grund gab, vornehmen Abstand zu Erika zu wahren, wenn sie mit Henrik zu tun hatten - er war bereits im Detail über ihr langjähriges Verhältnis und die Dreiecksbeziehung mit Greger Beckman informiert.
Salander hatte auch eine exakte Beurteilung geliefert, wie es um Millennium bestellt war. Henrik hatte genau gewusst, wie schlecht es um das Magazin stand, als er sich mit Erika in Verbindung setzte und ihr anbot, Teilhaber zu werden. Was für ein Spiel spielen Sie eigentlich?
Die Wennerström-Affäre wurde nur in einer kurzen Übersicht abgehandelt, aber sie hatte anscheinend an einem der Verhandlungstage im Publikum gesessen. Sie stellte auch Fragen zu Mikaels seltsamem Verhalten, als er im Prozess eine Aussage verweigerte. Cleveres Mädchen, wer immer du bist.
In der nächsten Sekunde setzte Mikael sich auf und traute seinen Augen nicht. Lisbeth Salander hatte einen kurzen Absatz darüber geschrieben, wie sie die Entwicklung der Dinge nach dem Prozess einschätzte. Sie hatte fast wortwörtlich die Pressemitteilung wiedergegeben, die Erika veröffentlichte, als er seinen Posten als verantwortlicher Herausgeber bei Millennium zur Verfügung stellte.
Lisbeth Salander hat den Originalwortlaut des Textes verwendet. Er warf einen Blick auf den Umschlag, in dem der Bericht gesteckt hatte. Er war auf drei Tage vor dem Zeitpunkt datiert, an dem Mikael das Urteil gesprochen wurde. Das ist unmöglich.
An diesem Tag hatte die Pressemitteilung nur an einem einzigen Ort auf der Welt existiert. In Mikaels Computer. In seinem eigenen iBook, nicht im Computer in der Redaktion. Der Text war nie ausgedruckt worden. Nicht einmal Erika hatte eine Kopie davon besessen.
Mikael Blomkvist legte Lisbeth Salanders Bericht langsam aus der Hand. Er beschloss, sich nicht noch eine Zigarette anzuzünden. Stattdessen zog er die Jacke an und ging in die Nacht hinaus, die eine Woche vor Mittsommer ganz hell war. Er folgte dem Ufer des Sunds, passierte Cecilias Grundstück und das protzige Motorboot, das unterhalb von Martin Vangers Villa lag. Er ging langsam und dachte nach. Schließlich setzte er sich auf einen Stein und sah zu den Blinkfeuern in der Hedestads-Bucht hinaus. Es gab nur eine Möglichkeit.
Du bist in meinem Computer gewesen, Lisbeth Salander, sagte er laut zu sich selbst. Du bist eine verdammte Hackerin.
18. Kapitel
Mittwoch, 18. Juni
Lisbeth Salander schreckte aus ihrem traumlosen Schlaf hoch. Ihr war leicht übel. Sie brauchte den Kopf nicht zu drehen, um sich zu vergewissern. Sie wusste auch so, dass Mimmi schon zur Arbeit gegangen war, aber ihr Geruch hing immer noch in der abgestandenen Schlafzimmerluft. Sie hatten auf dem Dienstagstreffen mit den Evil Fingers in der Mühle zu viel Bier getrunken. Kurz bevor das Lokal zumachte, war Mimmi aufgetaucht und hatte sie nach Hause und ins Bett begleitet.