Im Gegensatz zu Mimmi hatte Lisbeth sich nie als Lesbe gesehen. Sie hatte ihre Zeit niemals damit verschwendet, darüber nachzudenken, ob sie hetero-, homo- oder möglicherweise bisexuell war. Im Großen und Ganzen machte sie sich nichts aus solchen Etiketten und fand, dass es ihre Sache war, mit wem sie ins Bett ging. Müsste sie sich unbedingt für eine sexuelle Präferenz entscheiden, dann hätte sie wohl Jungs vorgezogen - zumindest waren die in ihrer persönlichen Statistik die Spitzenreiter. Es war nur ein bisschen problematisch, einen Jungen aufzutreiben, der kein Waschlappen und einigermaßen anständig im Bett war. Da war Mimmi ein süßer Kompromiss. Sie hatte Mimmi ein Jahr zuvor in einem Bierzelt auf dem Gay-Pride-Festival kennengelernt, und sie war die einzige Person, die Lisbeth ihrerseits den Evil Fingers vorgestellt hatte. Sie hatten das Jahr über sporadisch Kontakt gehabt; für beide Seiten war das Ganze nur ein Zeitvertreib. Mimmi hatte einen warmen und weichen Körper, aber sie war auch jemand, mit dem man aufwachen und frühstücken konnte.
Die Uhr auf ihrem Nachttisch zeigte halb zehn Uhr vormittags, und sie überlegte gerade, wovon sie aufgewacht war, als es an der Tür läutete. Sie setzte sich verblüfft auf. Nur ganz wenige Menschen klingelten überhaupt bei ihr. Schlaftrunken wickelte sie sich ihr Laken um den Körper, tapste leicht taumelnd auf den Korridor und öffnete. Sie blickte direkt in die Augen von Mikael Blomkvist. Panik fuhr ihr in die Glieder, und sie trat unwillkürlich einen Schritt zurück.
»Guten Morgen, Frau Salander«, begrüßte er sie munter. »Ich seh schon, ist ein bisschen spät geworden gestern. Darf ich reinkommen?«
Ohne ihre Erlaubnis abzuwarten, trat er über die Schwelle und zog die Tür hinter sich zu. Er betrachtete neugierig den Kleiderhaufen auf dem Flurboden sowie den Berg von gebündeltem Altpapier und spähte durch die Schlafzimmertür, während Lisbeth Salanders Welt Kopf stand - wie, was, wer? Mikael Blomkvist sah amüsiert, dass ihr der Mund weit offen stand.
»Ich habe mir schon gedacht, dass Sie noch nicht gefrühstückt haben, deshalb habe ich Bagels mitgebracht. Einmal Roastbeef, einmal Pute mit Dijon-Senf und einmal vegetarisch mit Avocado. Ich weiß nicht, welchen Sie gerne möchten. Roastbeef?« Er verschwand in ihrer Küche und fand ihre Kaffeemaschine sofort. »Wo steht denn der Kaffee?«, rief er. Salander stand wie gelähmt auf dem Flur, bis sie den Wasserhahn hörte. Sie machte drei rasche Schritte.
»Stopp!« Sie merkte, dass sie geschrien hatte, und senkte die Stimme. »Sie können hier nicht einfach reinstiefeln, als würden Sie hier wohnen, verdammt noch mal! Wir kennen uns ja nicht mal.«
Mikael Blomkvist, der mit der Kaffeekanne gerade Wasser in den Behälter gießen wollte, hielt inne und wandte sich zu ihr.
Er antwortete ihr in ernstem Ton:
»Falsch! Sie kennen mich besser als die meisten anderen Menschen. Oder?«
Er drehte ihr wieder den Rücken zu, goss den Wasserbehälter voll und begann, verschiedene Dosen zu öffnen. »Apropos, ich weiß auch, wie Sie das anstellen. Ich kenne Ihre Geheimnisse nämlich auch.«
Lisbeth Salander blinzelte und wünschte sich dringend, dass der Boden aufhören würde zu schwanken. Sie befand sich in einem Zustand geistiger Lähmung. Und sie hatte einen Kater. Die Situation war irreal, und ihr Gehirn weigerte sich zu funktionieren. Er weiß, wo ich wohne! Er stand in ihrer Küche. Das war unmöglich. Das durfte einfach nicht passieren. Er weiß, wer ich bin!
Plötzlich spürte sie, dass das Laken davonglitt, und raffte es fester um ihren Körper. Er sagte etwas, was sie nicht gleich verstand. »Wir müssen uns unterhalten«, wiederholte er. »Aber ich glaube, Sie sollten erst mal unter die Dusche.«
Sie versuchte, vernünftig mit ihm zu reden. »Hören Sie - wenn Sie Schwierigkeiten machen wollen, dann sind Sie bei mir an der falschen Adresse. Ich habe meinen Job getan. Sie müssen mit meinem Chef reden.«
Er stellte sich vor sie, die Arme ausgebreitet und die Handflächen ihr zugedreht. Ich bin unbewaffnet. Das universelle Friedenssignal. »Ich habe bereits mit Dragan Armanskij geredet. Er möchte übrigens, dass Sie ihn anrufen. Sie sind gestern Abend nicht an Ihr Handy gegangen.«
Er ging auf sie zu. Sie fühlte sich nicht bedroht, wich aber ein paar Zentimeter zurück, als er ihren Arm berührte und auf die Badezimmertür zeigte. Sie konnte es nicht ausstehen, wenn jemand sie ohne ihre Erlaubnis anfasste, mochte es auch in freundlicher Absicht geschehen.
»Ich will überhaupt keine Schwierigkeiten machen«, sagte er ruhig. »Aber mir ist sehr daran gelegen, mit Ihnen zu reden. Wenn Sie aufgewacht sind, heißt das natürlich. Der Kaffee ist fertig, sobald Sie sich angezogen haben. Und jetzt Dusche. Husch, husch.«
Sie gehorchte ihm willenlos. Lisbeth Salander ist niemals willenlos, dachte sie.
Im Badezimmer lehnte sie sich gegen die Tür und versuchte, ihre Gedanken zu sammeln. Sie war erschütterter, als sie es für möglich gehalten hätte. Erst in diesem Moment bemerkte sie, dass ihr fast die Blase platzte und eine Dusche nicht nur ein guter Rat war, sondern nach dem Chaos der letzten Nacht eine echte Notwendigkeit. Als sie fertig war, schlich sie sich ins Schlafzimmer und zog Slip und Jeans an sowie ein T-Shirt mit der Aufschrift Armageddon was yesterday - today we have a serious problem.
Sie ging zu ihrer Lederjacke, die über einem Stuhl hing, holte die E-Pistole aus der Tasche, kontrollierte die Ladung und steckte sie sich in die Gesäßtasche ihrer Jeans. Der Duft von Kaffee verbreitete sich in der Wohnung. Sie atmete tief durch und ging zurück in die Küche.
»Machen Sie eigentlich nie sauber?«, fragte er.
Er hatte die Spülmaschine mit altem Geschirr gefüllt, die Aschenbecher geleert, abgelaufene Milch weggeschüttet und den Tisch von einem fünf Wochen alten Zeitungsstapel befreit. Des Weiteren hatte er abgetrocknet und den Tisch mit Tassen sowie - er hatte tatsächlich keine Witze gemacht - Bagels gedeckt. Es sah einladend aus, und sie war nach der Nacht mit Mimmi wirklich hungrig. Okay, schauen wir uns mal an, wie das hier weitergeht. Abwartend nahm sie gegenüber von ihm Platz.
»Sie haben mir immer noch keine Antwort gegeben. Roastbeef, Pute oder vegetarisch?«
»Roastbeef.«
»Dann nehm ich Pute.«
Sie frühstückten schweigend, während sie sich gegenseitig musterten. Als sie ihren Bagel aufgegessen hatte, vertilgte sie auch noch die Hälfte des vegetarischen. Sie nahm ein zerknautschtes Paket vom Fensterbrett und zündete sich eine Zigarette an.
»Okay, dann weiß ich jetzt auch Bescheid«, brach er das Schweigen. »Ich bin vielleicht nicht so gut wie Sie, wenn es darum geht, den persönlichen Hintergrund fremder Personen zu recherchieren, aber jetzt weiß ich zumindest, dass Sie weder Veganerin sind noch - wie Dirch Frode vermutete - an Magersucht leiden. Ich werde diese Informationen in meinem Bericht über Sie vermerken.«
Salander starrte ihn an, aber als sie sein Gesicht sah, wurde ihr klar, dass er sie nur aufziehen wollte. Er sah so amüsiert aus, dass sie nicht widerstehen konnte, ihn schief anzulächeln. Die Situation war absurd. Sie schob den Teller von sich. Er hatte freundliche Augen. Was immer er sein mochte, er war höchstwahrscheinlich kein böser Mensch, sagte sie sich. In ihrem Bericht hatte es ja auch keine Hinweise darauf gegeben, dass er ein bösartiger Dreckskerl war, der seine Freundinnen misshandelte oder Ähnliches. Sie rief sich in Erinnerung, dass sie alles über ihn wusste - nicht umgekehrt. Wissen ist Macht.
»Was grinsen Sie denn so?«, fragte sie.