Mikael verbrachte zwei Tage damit, sein Material durchzugehen, während er auf die Nachricht wartete, ob Henrik Vanger überleben würde oder nicht. Er hielt engen Kontakt zu Dirch Frode. Am Donnerstagabend kam Frode zum Gästehäuschen hinüber und teilte mit, dass Henrik Vanger über den Berg zu sein schien.
»Er ist schwach, aber ich konnte heute ein bisschen mit ihm reden. Er will Sie so bald wie möglich sehen.«
Am Mittsommertag gegen 13 Uhr fuhr Mikael also ins Krankenhaus von Hedestad und suchte den Gang, auf dem Henrik Vangers Zimmer lag. Er traf einen irritierten Birger Vanger an, der sich ihm in den Weg stellte und gebieterisch verkündete, dass Henrik Vanger unmöglich Besuch empfangen könne. Mikael blieb ruhig stehen und sah den Stadtrat an.
»Was Sie nicht sagen. Henrik Vanger hat mir ausdrücklich ausrichten lassen, dass er mich heute treffen will.«
»Sie gehören nicht zur Familie und haben hier nichts zu suchen.«
»Sie haben recht, ich gehöre nicht zur Familie. Aber ich handle in direktem Auftrag von Henrik Vanger und nehme nur von ihm Anweisungen entgegen.«
Es hätte zu einem heftigen Wortwechsel kommen können, wäre in diesem Moment nicht Dirch Frode aus Henriks Zimmer gekommen.
»Ah, da sind Sie ja. Henrik hat eben nach Ihnen gefragt.«
Frode hielt ihm die Tür auf, und Mikael ging an Birger Vanger vorbei ins Krankenzimmer.
Henrik Vanger sah aus, als wäre er in der letzten Woche um zehn Jahre gealtert. Er lag erschöpft auf dem Bett, mit halb geschlossenen Augen und einem Sauerstoffschlauch in der Nase, die Haare zerzauster denn je. Eine Krankenschwester hielt Mikael zurück, indem sie ihm eine Hand auf den Arm legte.
»Zwei Minuten. Mehr nicht. Und regen Sie ihn nicht auf.« Mikael nickte und setzte sich auf einen Besucherstuhl, sodass er Henriks Gesicht sehen konnte. Er empfand eine Zärtlichkeit, die ihn verblüffte, und drückte vorsichtig die Hand des alten Mannes. Henrik Vanger sprach stoßweise und mit schwacher Stimme.
»Neuigkeiten?«
Mikael nickte.
»Ich werde Ihnen Bericht erstatten, sobald es Ihnen besser geht. Ich habe das Rätsel noch nicht gelöst, aber ich habe neues Material gefunden und verfolge gerade eine ganze Menge Spuren. In ein oder zwei Wochen kann ich sagen, ob sie irgendwohin führen.«
Henrik Vanger versuchte zu nicken. Es wurde eher ein Zwinkern, mit dem er signalisierte, dass er verstanden hatte.
»Ich muss ein paar Tage verreisen.«
Henriks Augenbrauen zogen sich zusammen.
»Ich muss verreisen, um etwas zu recherchieren. Ich habe mit Dirch Frode ausgemacht, dass ich ihm Bericht erstatten werde. Ist das für Sie in Ordnung?«
»Dirch ist … in jeder Hinsicht … mein Vertreter.«
Mikael nickte.
»Mikael … wenn ich es … nicht schaffe … dann möchte ich, dass Sie … den Job trotzdem zu Ende bringen.«
»Ich verspreche Ihnen, ich werde den Job zu Ende bringen.«
»Dirch hat alle … Vollmachten.«
»Henrik, ich möchte, dass Sie wieder auf die Beine kommen. Ich wäre entsetzlich wütend auf Sie, wenn Sie einfach sterben würden, jetzt, wo ich mit meiner Arbeit so weit gekommen bin.«
»Zwei Minuten«, sagte die Krankenschwester.
»Ich muss gehen. Nächstes Mal, wenn ich komme, möchte ich mich lange mit Ihnen unterhalten.«
Als er wieder auf den Flur trat, wurde Mikael von Birger Vanger erwartet, der ihm eine Hand auf die Schulter legte.
»Ich möchte, dass Sie Henrik nicht weiter belasten. Er ist schwer krank und darf in keinster Weise gestört oder aufgeregt werden.«
»Ich verstehe Ihre Sorge und kann Ihnen versichern, ich sehe die Dinge genauso. Ich werde ihn nicht aufregen.«
»Alle wissen, dass Henrik Sie für sein kleines Hobby angestellt hat … Harriet. Frode hat mir erzählt, dass Henrik nach einem Gespräch mit Ihnen, kurz vor seinem Herzinfarkt, furchtbar aufgeregt war. Er hat gesagt, Sie befürchten, den Anfall ausgelöst zu haben.«
»Das glaube ich jetzt nicht mehr. Henrik litt unter starker Arterienverkalkung. Er hätte den Herzanfall genauso gut bekommen können, wenn er auf die Toilette gegangen wäre. Ich glaube, das wissen Sie mittlerweile auch.«
»Ich möchte vollen Einblick in diese Dummheiten nehmen. Es ist schließlich meine Familiengeschichte, in der Sie da wühlen.«
»Wie gesagt … ich arbeite für Henrik. Nicht für die Familie.«
Birger Vanger war es offensichtlich nicht gewohnt, dass ihm jemand widersprach. Einen Moment starrte er Mikael mit einem Blick an, der wohl Respekt einflößend wirken sollte, ihn aber eher wie einen aufgeblasenen Elch aussehen ließ. Birger Vanger drehte sich um und ging in Henriks Zimmer.
Mikael hätte fast losgelacht, beherrschte sich aber. Es war nicht unbedingt angebracht, auf dem Flur vor Henriks Krankenbett zu lachen, das ebenso gut sein Totenbett werden konnte. Aber Mikael hatte plötzlich an eine Strophe aus Lennart Hylands gereimter Abc-Fibel aus den sechziger Jahren denken müssen. Aus unerfindlichen Gründen hatte er sie auswendig gelernt, als er lesen und schreiben lernte. Und beim Buchstaben E hieß es:
Der Elch, der saß still lächelnd da,
der Wald um ihn her zerschossen war.
Vor dem Eingang zum Krankenhaus stieß Mikael mit Cecilia zusammen. Seit sie aus ihrem abgebrochenen Urlaub zurückgekommen war, hatte er schon Dutzende von Malen vergeblich versucht, sie auf ihrem Handy zu erreichen. Auch zu Hause hatte er sie nicht antreffen können.
»Hallo, Cecilia«, sagte er. »Tut mir leid, was mit Henrik passiert ist.«
»Danke«, sagte sie und nickte.
Mikael versuchte, ihre Gefühle zu erraten, aber er konnte weder Wärme noch Kühle ausmachen.
»Wir müssen reden«, sagte er.
»Tut mir leid, dass ich dich so auf Distanz halte. Ich kann verstehen, dass du sauer bist, aber im Moment komme ich nicht mal mit mir selbst richtig klar.«
Mikael blinzelte, bevor ihm klar wurde, worauf sie anspielte. Schnell legte er ihr eine Hand auf den Arm und lächelte sie an.
»Warte, Cecilia, du hast mich missverstanden. Ich bin absolut nicht sauer auf dich. Ich hoffe, wir können immer noch Freunde bleiben, aber wenn du mich nicht mehr sehen willst … wenn du das so beschlossen hast, dann werde ich das auf jeden Fall respektieren.«
»Das mit den Beziehungen kann ich nicht so gut«, sagte sie.
»Ich auch nicht. Wollen wir einen Kaffee zusammen trinken?« Er nickte in Richtung Krankenhaus-Cafeteria.
Cecilia zögerte. »Nein, nicht heute. Ich will jetzt Henrik besuchen.«
»Okay, aber ich muss trotzdem noch mit dir reden. Rein beruflich.«
»Was meinst du damit?«
»Erinnerst du dich an unser erstes Treffen im Gästehäuschen im Januar? Damals habe ich dir zugesichert, dass unser Gespräch off the record ist und dass ich dir Bescheid sage, wenn ich dich richtig befragen will. Es geht um Harriet.«
Cecilia Vanger wurde rot vor Wut.
»Du verdammter Mistkerl!«
»Cecilia, ich bin auf Sachen gestoßen, über die ich ganz einfach mit dir reden muss.«
Sie trat einen Schritt zurück.
»Begreifst du denn nicht, dass die irrwitzige Jagd nach dieser verfluchten Harriet nur eine Beschäftigungstherapie für Henrik ist? Begreifst du nicht, dass er vielleicht da drinnen liegt und stirbt? Dass es das Letzte ist, was er jetzt brauchen kann, wenn er sich aufregt und sich falsche Hoffnungen macht und …«
Sie verstummte.
»Vielleicht ist es nur ein Hobby für Henrik, aber ich habe gerade mehr neues Material zutage gefördert als irgend jemand sonst in den letzten fünfunddreißig Jahren. In diesen Ermittlungen sind noch ein paar Fragen offen, und ich arbeite in Henriks Auftrag.«
»Wenn Henrik stirbt, wird es mit den Ermittlungen verdammt schnell zu Ende sein. Dann fliegst du hier raus, bevor du bis drei zählen kannst«, sagte Cecilia und ging an ihm vorbei.
Sämtliche Geschäfte waren geschlossen, Hedestad so gut wie ausgestorben. Die Einwohner waren in ihren Sommerhäuschen und feierten Mittsommer. Nach langem Suchen entdeckte Mikael, dass zumindest das Café auf der Terrasse des Stadthotels noch geöffnet hatte. Er bestellte sich einen Kaffee und ein belegtes Brot und setzte sich mit seiner Abendzeitung hin. In der Welt war nichts Wichtiges passiert.