Er legte die Zeitung aus der Hand und dachte über Cecilia nach. Er hatte weder Henrik noch Frode von seinem Verdacht erzählt, dass sie das Fenster in Harriets Zimmer geöffnet hatte. Er hatte Angst gehabt, sie damit einem schlimmen Verdacht auszusetzen, und er wollte ihr auf keinen Fall schaden. Doch früher oder später musste diese Frage gestellt werden.
Er blieb eine Stunde auf der Terrasse sitzen, bevor er beschloss, das ganze Problem beiseitezuschieben und sich am Mittsommerabend anderen Dingen zuzuwenden als der Familie Vanger. Sein Handy schwieg. Erika war verreist und amüsierte sich irgendwo mit ihrem Mann, und er hatte niemanden, mit dem er hätte sprechen können.
Er fuhr um vier Uhr nachmittags auf die Hedeby-Insel zurück und fasste einen weiteren Entschluss - mit dem Rauchen aufzuhören. Er hatte seit seinem Wehrdienst regelmäßig trainiert, sowohl im Fitnessstudio als auch durch Joggen am südlichen Ufer des Mälar-Sees, aber er war aus dem Rhythmus gekommen, als die Probleme mit Hans-Erik Wennerström losgingen. Erst im Gefängnis hatte er wieder begonnen, Gewichte zu heben, in erster Linie als Therapie, aber seit seiner Entlassung hatte er sich nicht sonderlich angestrengt. Höchste Zeit, wieder anzufangen. Entschlossen zog er sich seine Joggingmontur an und setzte sich träge in Trab auf dem Weg zu Gottfrieds Häuschen, bog dann Richtung Befestigung ab und machte eine etwas anstrengendere Runde durchs Gelände. Er hatte seit seiner Militärzeit nicht mehr an Orientierungsläufen teilgenommen, war aber stets lieber durch den Wald als auf flachen Wegen gelaufen. Am Zaun des Östergården entlang lief er zurück zur Stadt. Er fühlte sich total erschöpft, als er atemlos die letzten Schritte zu seinem Haus tat.
Gegen sechs Uhr hatte er geduscht. Anschließend kochte er Kartoffeln und aß dazu Senfhering mit Schnittlauch auf einem wackeligen Tisch vor dem Gästehäuschen. Er goss sich einen Schnaps ein und prostete sich selbst zu. Danach schlug er einen Krimi mit dem Titel Das Lied der Sirenen von Val McDermid auf.
Gegen sieben kam Frode zu ihm und ließ sich ihm gegenüber auf einen Gartenstuhl sinken. Mikael goss ihm auch einen Schnaps ein.
»Sie haben heute für ein bisschen Aufregung gesorgt«, sagte Frode.
»Das habe ich gemerkt.«
»Birger Vanger ist ein Idiot.«
»Ich weiß.«
»Im Gegensatz zu Cecilia, die entsetzlich wütend auf Sie ist.«
Mikael nickte.
»Sie hat mich angewiesen, dafür zu sorgen, dass Sie aufhören, in den Familienangelegenheiten herumzuschnüffeln.«
»Verstehe. Und Ihre Antwort?«
Dirch Frode sah sein Glas mit dem Schnaps an und leerte es dann in einem Zug.
»Meine Antwort ist die, dass Henrik Ihnen sehr deutliche Anweisungen gegeben hat. Solange er diese Anweisungen nicht ändert, sind Sie an unseren Vertrag gebunden. Ich erwarte von Ihnen, dass Sie Ihr Bestes geben, um Ihren Teil des Vertrags zu erfüllen.«
Mikael nickte. Er blickte zum Himmel hinauf, an dem sich langsam Regenwolken sammelten.
»Da zieht ein Unwetter auf«, bemerkte Frode. »Doch keine Sorge. Wenn es richtig stürmisch werden sollte, werde ich mich hinter Sie stellen.«
»Danke.«
Sie schwiegen eine Weile.
»Könnte ich noch einen Schnaps haben?«, fragte Dirch Frode.
Nur wenige Minuten nachdem Frode gegangen war, bremste Martin Vanger vor Mikaels Häuschen und parkte sein Auto am Straßenrand. Er kam auf Mikael zu und grüßte. Mikael wünschte ihm einen schönen Mittsommerabend und bot ihm einen Schnaps an.
»Nein, das lasse ich wohl besser. Ich bin nur gekommen, um mich umzuziehen, danach fahre ich wieder in die Stadt und verbringe den Abend mit Eva.«
Mikael wartete.
»Ich habe mit Cecilia gesprochen. Sie ist momentan ein bisschen aufgeregt - Henrik und sie stehen sich sehr nah. Ich hoffe, Sie verzeihen ihr, wenn sie etwas … Unschönes zu Ihnen gesagt hat.«
»Ich mag Cecilia sehr gern«, antwortete Mikael.
»Ich weiß. Aber sie kann schwierig sein. Ich möchte bloß, dass Sie sich über eines im Klaren sind: Cecilia ist entschieden dagegen, dass Sie weiter in der Vergangenheit graben.«
Mikael seufzte. Alle in Hedestad schienen zu wissen, womit Henrik ihn beauftragt hatte.
»Wie denken Sie darüber?«
Martin Vanger zuckte mit den Schultern.
»Henrik war jahrzehntelang von der Geschichte mit Harriet wie besessen. Ich weiß nicht … Harriet war meine Schwester, aber irgendwie ist das alles schon so weit weg. Frode hat gesagt, dass Sie einen wasserdichten Vertrag mit Henrik hätten, der nur von ihm selbst aufgelöst werden kann. Ich fürchte, in seinem derzeitigen Zustand würde das mehr schaden als nützen.«
»Sie wollen also, dass ich weitermache.«
»Haben Sie denn schon irgendetwas gefunden?«
»Tut mir leid, Martin, aber es wäre ein Vertragsbruch, wenn ich darüber mit Ihnen ohne Henriks Erlaubnis sprechen würde.«
»Verstehe.« Plötzlich lächelte er. »Henrik hat was übrig für Verschwörungstheorien. Aber ich will vor allem nicht, dass Sie falsche Hoffnungen in ihm wecken.«
»Das werde ich nicht tun, ich verspreche es Ihnen. Ich gebe nur Fakten an ihn weiter, die ich belegen kann.«
»Gut … übrigens, wo wir gerade dabei sind … wir haben da ja noch einen anderen Vertrag, über den wir nachdenken müssten. Da Henrik krank geworden ist und seine Aufgaben bei Millennium nicht wahrnehmen kann, bin ich verpflichtet, ihn zu vertreten.«
Mikael wartete.
»Wir sollten eine Sitzung der Führungskräfte einberufen, um die Lage zu klären.«
»Das ist eine gute Idee. Aber soweit ich informiert bin, soll die nächste Sitzung erst im August stattfinden.«
»Ich weiß, aber eventuell müssen wir das vorverlegen.«
Mikael lächelte höflich.
»Vielleicht sprechen Sie da einfach mit dem Falschen. Derzeit sitze ich gar nicht im Führungskreis von Millennium. Ich habe die Zeitschrift im Dezember verlassen und keinen Einfluss auf das, was auf der Führungsebene geschieht. Ich schlage vor, dass Sie sich in dieser Frage mit Erika Berger in Verbindung setzen.«
Mit dieser Antwort hatte Martin Vanger nicht gerechnet. Er überlegte kurz und stand auf.
»Sie haben natürlich recht. Ich werde mit ihr sprechen.« Er klopfte Mikael zum Abschied auf die Schulter und ging zu seinem Auto.
Mikael sah ihm hinterher. Es war nichts Konkretes ausgesprochen worden, aber die Drohung stand deutlich im Raum. Martin Vanger hatte Millennium in die Waagschale geworfen. Nach einer Weile goss Mikael sich noch einen Schnaps ein und nahm seinen Roman wieder zur Hand.
Gegen neun Uhr kam die braun gesprenkelte Katze vorbei und strich ihm um die Beine. Er hob sie hoch und kraulte sie hinter den Ohren.
»Dann sind wir ja schon zwei, die sich am Mittsommerabend langweilen«, sagte er.
Als die ersten Regentropfen fielen, ging er hinein. Die Katze wollte draußen bleiben.
Am Mittsommertag nahm sich Lisbeth Salander ihre Kawasaki vor und checkte sie einmal gründlich durch. So eine 125 Kubik-Maschine war sicher nicht das beeindruckendste Gefährt auf Erden, aber dafür gehörte sie ihr, und sie konnte gut mit ihr umgehen. Sie hatte sie eigenständig Schraube für Schraube instand gesetzt - und dabei ein bisschen mehr frisiert, als legal gewesen wäre.
Nachmittags schnappte sie sich Helm und Lederjacke und fuhr hinaus zum Pflegeheim Äppelviken, wo sie den Abend mit ihrer Mutter im Park verbrachte. Lisbeths Sorge und ihr schlechtes Gewissen versetzten ihr einen Stich. Ihre Mutter schien abwesender denn je. Während der drei Stunden, die sie miteinander verbrachten, wechselten sie nur ein paar wenige Worte, und augenscheinlich war ihrer Mutter dabei nicht bewusst, mit wem sie eigentlich redete.