Mikael war darauf gefasst, dass Mildred Berggren ablehnen oder erklären würde, die Fotos nie entwickelt oder weggeworfen zu haben. Stattdessen sah sie Mikael mit ihren hellblauen Augen an und meinte, als wäre es die größte Selbstverständlichkeit auf Erden, dass sie alle ihre alten Urlaubsfotos noch habe.
Sie ging hinaus und kam nach ein paar Minuten mit einem kleinen Karton zurück, in dem sie Unmengen von Fotos in unbeschrifteten Kuverts gesammelt hatte. Es dauerte eine Weile, bis sie die Fotos von dieser Urlaubsreise gefunden hatte. In Hedestad hatte sie drei Bilder geschossen. Eines war unscharf und zeigte die Hauptstraße. Eines zeigte ihren ersten Mann. Das dritte zeigte die Clowns im Festzug.
Eifrig beugte Mikael sich vor. Er sah eine Gestalt auf der anderen Straßenseite. Sie sagte ihm überhaupt nichts. Das Bild war wahrscheinlich völlig wertlos.
20. Kapitel
Dienstag, 1. Juli - Mittwoch, 2. Juli
Am Morgen nach seiner Rückkehr ging Mikael zunächst zu Dirch Frode hinüber, um sich nach Henriks Zustand zu erkundigen. Er erfuhr, dass der alte Mann in der vergangenen Woche erhebliche Fortschritte gemacht hatte. Er war immer noch schwach und gebrechlich, aber mittlerweile konnte er sich schon im Bett aufsetzen. Sein Zustand galt nicht mehr als kritisch.
»Gott sei Dank«, sagte Mikael. »Mir ist nämlich klar geworden, dass ich ihn wirklich gern habe.«
Frode nickte. »Ich weiß. Und Henrik mag Sie auch. Wie war die Reise nach Norrland?«
»Erfolgreich und gleichzeitig unbefriedigend. Ich erzähl es Ihnen nachher. Doch zuvor eine Frage.«
»Bitte sehr.«
»Was geschieht mit Millennium, wenn Henrik stirbt?«
»Gar nichts. Martin wird Mitglied der Geschäftsführung.«
»Könnten Sie sich vorstellen, rein hypothetisch natürlich, dass Martin Millennium irgendwelche Probleme bereiten würde, wenn ich nicht aufhöre, Harriets Verschwinden zu untersuchen?«
Dirch Frode sah Mikael scharf an.
»Was ist passiert?«
»Eigentlich gar nichts.« Mikael berichtete von dem Gespräch, das er am Mittsommerabend mit Martin Vanger geführt hatte. »Als ich von Norsjö zurückfuhr, rief Erika mich an und erzählte, dass Martin gerade mit ihr gesprochen und sie gebeten hatte, auf meine Anwesenheit in der Redaktion zu drängen.«
»Ich verstehe. Vermutlich hat Cecilia ihn angespitzt. Aber ich glaube nicht, dass Martin ernsthaft versuchen würde, Sie zu erpressen. Dafür ist er viel zu anständig. Und vergessen Sie nicht, dass auch ich in der Führungsspitze der kleinen Tochtergesellschaft sitze, die wir gegründet haben, als wir bei Millennium eingestiegen sind.«
»Aber wenn es zu einer heiklen Situation kommen sollte - wie werden Sie sich dann verhalten?«
»Verträge sind dazu da, eingehalten zu werden. Ich arbeite für Henrik. Henrik und ich sind seit fünfundvierzig Jahren Freunde, und in diesen Dingen sind wir uns sehr ähnlich. Wenn Henrik sterben sollte, dann erbe tatsächlich ich - und nicht Martin - Henriks Anteil an der Tochtergesellschaft. Wir haben einen wasserdichten Vertrag, der uns verpflichtet, Millennium vier Jahre lang zu unterstützen. Wenn Martin vorhaben sollte, irgendwelchen Unfug anzustellen - was ich nicht glaube -, dann kann er eventuell eine geringe Zahl neuer Anzeigenkunden verhindern.«
»Die für Millennium von existenzieller Bedeutung sind …«
»Ja, aber sehen Sie es mal so - es ist zeitaufwändig, sich mit solchem Kleinkram abzugeben. Martin kämpft derzeit um sein Überleben in der Industrielandschaft und arbeitet vierzig Stunden am Tag. Für andere Dinge hat er gar keine Zeit.«
Mikael dachte eine Weile nach.
»Darf ich mal fragen … ich weiß, es geht mich nichts an, aber wie ist der allgemeine Zustand des Konzerns?«
Frode wirkte ernst.
»Wir haben Probleme.«
»Tja, das kapiert sogar ein normalsterblicher Wirtschaftsjournalist wie ich. Ich meine, wie ernst ist es denn?«
»Unter uns?«
»Ganz unter uns.«
»Wir haben in den letzten Wochen zwei Großaufträge in der Elektronikindustrie verloren und stehen kurz davor, komplett vom russischen Markt verdrängt zu werden. Im September müssen wir 1600 Angestellte in Örebro und Trollhättan freistellen. Eine Katastrophe für diese Menschen, die jahrelang für das Unternehmen gearbeitet haben. Mit jeder weiteren Fabrik, die wir schließen, wird das Vertrauen in den Konzern weiter untergraben.«
»Martin Vanger steht also gewaltig unter Druck.«
»Er schuftet wie ein Ochse und balanciert dabei auf Eierschalen.«
Mikael ging nach Hause und rief Erika an. Sie war nicht in der Redaktion, also sprach er stattdessen mit Christer Malm.
»Es sieht folgendermaßen aus: Erika hat mich gestern angerufen, als ich auf der Rückfahrt von Norsjö war. Martin Vanger hat ihr in den Ohren gelegen und hat, wie soll ich es formulieren, er hat sie ermuntert, sie solle vorschlagen, dass ich langsam wieder größere Verantwortung in der Redaktion übernehme.«
»Das finde ich auch«, sagte Christer.
»Das verstehe ich ja. Aber ich habe hier einen Vertrag mit Henrik Vanger, den ich nicht brechen kann, und Martin agiert im Auftrag einer Person hier oben, die will, dass ich mit meiner Schnüffelei aufhöre und von hier verschwinde.«
»Verstehe.«
»Schöne Grüße an Erika, ich komme nach Stockholm, sobald ich hier oben fertig bin. Vorher nicht.«
»Alles klar. Du bist vollkommen verrückt. Ich werde es ausrichten.«
»Christer, hier oben ist irgendwas im Gange, und ich habe nicht vor, jetzt einen Rückzieher zu machen.«
Christer stieß einen tiefen Seufzer aus.
Mikael ging zu Martin Vangers Haus und klopfte. Eva Hassel machte ihm auf und grüßte freundlich.
»Hallo. Ist Martin da?«
Wie zur Antwort kam Martin Vanger mit einer Aktentasche heraus. Er küsste Eva auf die Wange und grüßte Mikael.
»Ich bin auf dem Weg ins Büro. Wollten Sie mit mir sprechen?«
»Das können wir auch noch später, wenn Sie es jetzt eilig haben.«
»Schießen Sie los.«
»Ich werde nicht in die Millennium-Redaktion zurückkehren, bevor ich nicht Henrik Vangers Auftrag erledigt habe. Ich informiere Sie nur, damit Sie nicht vor dem Jahreswechsel mit meiner Anwesenheit im Führungskreis rechnen.«
Martin Vanger wiegte sich einen Moment auf den Absätzen vor und zurück.
»Sie glauben offenbar, ich will Sie loswerden.« Er machte ein Pause. »Wir müssen später darüber sprechen, Mikael. Ich habe wirklich nicht die Zeit, mich hobbymäßig der Leitung von Millennium zu widmen, und ich wünschte, ich hätte Henriks Vorschlag nie angenommen. Aber glauben Sie mir - ich werde mein Bestes tun, damit Millennium überlebt.«
»Das habe ich niemals bezweifelt«, antwortete Mikael höflich.
»Wenn wir für nächste Woche einen Termin vereinbaren, können wir eine Stunde lang die wirtschaftliche Situation durchgehen, und ich kann Ihnen erklären, wie ich die Dinge einschätze. Aber im Grunde denke ich, dass das Magazin es sich nicht leisten kann, dass eine seiner Schlüsselfiguren hier auf der Insel sitzt und Däumchen dreht. Ich mag die Zeitschrift, und ich denke, wir können ihr gemeinsam wieder auf die Füße helfen, aber bei dieser Arbeit werden Sie gebraucht. Ich bin hier in einen Loyalitätskonflikt geraten: Entweder ich richte mich nach Henriks Wünschen, oder ich mache meinen Job bei der Führung von Millennium.«
Mikael zog seinen Trainingsanzug an und drehte eine Runde durchs Gelände, bis hin zur Befestigung und hinunter zu Gottfrieds Häuschen, bevor er in langsamerem Tempo am Wasser entlang nach Hause lief. Frode saß an seinem Gartentisch. Er wartete geduldig, während Mikael eine Flasche Wasser trank und sich den Schweiß vom Gesicht wischte.
»Das sieht mir aber nicht gesund aus bei dieser Hitze.«