Mikael hörte aufmerksam zu, während Lisbeth die bizarren Details des Karlstad-Mordes wiedergab. Als sie sich eine Zigarette anzündete, deutete er mit fragendem Blick auf das Paket. Sie schob es ihm zu.
»Der Mörder hat also auch das Tier angegriffen?«
»Das Bibelzitat lautet so, dass wenn eine Frau Sex mit einem Tier hat, beide getötet werden sollen.«
»Die Wahrscheinlichkeit, dass diese Frau Sex mit einem Pferd hatte, dürfte wohl gegen null gehen.«
»Man kann das Bibelzitat wörtlich auslegen. Es reicht, wenn sie sich einem Tier naht, was eine Bäuerin unbestreitbar jeden Tag tut.«
»Okay. Fahren Sie fort.«
»Der nächste Fall auf Harriets Liste ist Sara. Ich habe sie als Sara Witt identifiziert, siebenunddreißig Jahre alt, wohnhaft in Ronneby. Sie wurde im Januar 1964 ermordet. Die Umstände waren Folgende: Sie wurde gefesselt in ihrem Bett aufgefunden. Man hatte sie sexuell schwer misshandelt, Todesursache war allerdings Ersticken. Sie wurde erdrosselt. Der Mörder legte sogar noch ein Feuer. Er wollte das ganze Haus anscheinend bis auf die Grundmauern niederbrennen, aber das Feuer ging zum Teil von selbst aus, und außerdem war die Feuerwehr sehr schnell vor Ort.«
»Und die Verbindung?«
»Sara Witt war sowohl Pfarrerstochter als auch mit einem Pfarrer verheiratet. Ihr Mann war ausgerechnet an jenem Wochenende verreist.«
»Wenn eines Priesters Tochter sich durch Hurerei entheiligt, so soll man sie mit Feuer verbrennen, denn sie hat ihren Vater entheiligt. Okay. Damit passt sie in die Liste. Sie haben gesagt, Sie hätten mehrere Fälle gefunden.«
»Ich habe drei weitere Frauen gefunden, die unter so bizarren Umständen ermordet wurden, dass sie auf Harriets Liste stehen müssten. Bei dem ersten Fall geht es um eine junge Frau namens Liv Gustavsson. Sie war zweiundzwanzig Jahre alt und wohnte in Farsta. Sie war ein Pferdenarr, nahm an Reitturnieren teil und galt als vielversprechendes Talent. Außerdem hatte sie zusammen mit ihrer Schwester eine kleine Tierhandlung.«
»Okay.«
»Sie wurde in ihrem Laden aufgefunden. Sie hatte Überstunden gemacht, um die Buchführung zu erledigen, und war ganz allein. Sie muss den Mörder freiwillig hereingelassen haben. Sie wurde vergewaltigt und erwürgt.«
»Das klingt aber nicht so richtig nach Harriets Liste, oder?«
»Nicht so richtig, aber da gibt es noch ein Detaiclass="underline" Der Mörder hatte ihr ganz zum Schluss noch einen Wellensittich in den Unterleib gestopft und danach alle Tiere, die sich in der Zoohandlung befanden, freigelassen: Katzen, Schildkröten, weiße Mäuse, Kaninchen, Vögel. Sogar die Fische aus den Aquarien. Ihrer Schwester bot sich am nächsten Morgen ein grausiger Anblick.«
Mikael nickte.
»Sie wurde im August 1960 ermordet, vier Monate nach dem Mord an der Bäuerin. In beiden Fällen handelte es sich um Frauen, die berufsmäßig mit Tieren zu tun hatten, und in beiden Fällen wurde ein Tieropfer gebracht. Die Kuh in Karlstad hat zwar überlebt, aber vermutlich ist es auch nicht einfach, eine Kuh zu erstechen. Ein Wellensittich ist da doch irgendwie einfacher. Außerdem gab es noch ein weiteres Tieropfer.«
»Und zwar?«
Lisbeth erzählte von dem seltsamen Taubenmord an Lea Persson in Uddevalla. Mikael schwieg und überlegte so lange, bis sogar Lisbeth ungeduldig wurde.
»Okay«, meinte er schließlich. »Ich schließe mich Ihrer Theorie an. Ein Fall fehlt noch.«
»Ein Fall, den ich zufällig entdeckt habe. Ich weiß nicht, wie viele mir vielleicht entgangen sind.«
»Erzählen Sie.«
»Februar 1966 in Uppsala. Das jüngste Opfer war eine siebzehnjährige Gymnasiastin namens Lena Andersson. Sie verschwand nach einem Klassenfest und wurde drei Tage später in einem Graben in der Gegend von Uppsala gefunden, ein gutes Stückchen außerhalb der Stadt. Sie war an einem anderen Ort ermordet und dann dorthin gebracht worden.«
Mikael nickte.
»Dieser Mord hat in den Massenmedien für Aufsehen gesorgt, aber über die genauen Umstände ihres Todes wurde nie berichtet. Das Mädchen war auf äußerst groteske Weise gefoltert worden. Ich habe den Bericht des Pathologen gelesen. Ihre Hände und ihre Brust wiesen schwere Verbrennungen auf, und am ganzen Körper waren ihr wieder und wieder Brandverletzungen zugefügt worden. Man fand Wachsflecken auf ihr, die bewiesen, dass eine Kerze verwendet worden war, aber die Hände waren so verkohlt, dass sie in ein größeres Feuer gehalten worden sein mussten. Schließlich hat der Mörder ihr den Kopf abgesägt und ihn neben den Körper gelegt.«
Nun wurde Mikael doch blass.
»Lieber Gott«, sagte er.
»Ich finde kein passendes Bibelzitat, aber es gibt mehrere Abschnitte, die von Brand- und Sühneopfern handeln, und an ein paar Stellen wird angeordnet, dass das Opfertier - meistens ein Stier - in seine Stücke zerlegt werden soll. Der Einsatz von Feuer erinnert auch an den ersten Mord, den an Rebecka in Hedestad.«
Als gegen Abend die Mückenschwärme anrückten, räumten Mikael und Lisbeth den Gartentisch ab und setzten sich in die Küche, um dort weiterzureden.
»Dass Sie kein exaktes Bibelzitat finden, muss nichts heißen. Es geht nicht um Zitate. Das hier ist eine groteske Parodie dessen, was in der Bibel steht - es sind eher Assoziationen zu aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten.«
»Ich weiß. Es ist nicht mal logisch. Wenn der Mörder das Zitat buchstabengetreu ausgelegt hätte, dass sowohl die Frau als auch der Mann ausgerottet werden sollen, wenn sie während ihrer Menstruation Sex hatten, dann hätte er ja Selbstmord begehen müssen.«
»Worauf läuft das also alles hinaus?«, fragte Mikael.
»Ihre Harriet hatte entweder das ziemlich seltsame Hobby, Bibelzitate zu sammeln und mit Mordopfern in Verbindung zu bringen, von denen sie gehört hatte … oder sie muss gewusst haben, dass zwischen diesen Morden eine Verbindung bestand.«
»Soweit wir wissen, wurden die Morde zwischen 1949 und 1966 verübt. Es müsste also ein vollkommen verrückter Sadist und Serienmörder mit der Bibel unterm Arm durch die Gegend geschlichen sein, um in einem Zeitraum von mindestens siebzehn Jahren Frauen zu ermorden, ohne dass jemand die Morde jemals miteinander in Verbindung gebracht hätte. Das klingt völlig unplausibel.«
Lisbeth Salander schob den Stuhl zurück und holte die Kaffeekanne vom Herd. Sie steckte sich eine Zigarette an und blies den Rauch in alle Richtungen. Mikael fluchte innerlich und stibitzte sich noch eine Zigarette von ihr.
»Nein, das ist gar nicht mal so unplausibel«, sagte sie und hob einen Finger. »Im 20. Jahrhundert haben wir in Schweden mehrere Dutzend unaufgeklärte Frauenmorde. Dieser Kriminologie-Professor namens Persson hat in der Fernsehserie Gesucht darauf hingewiesen, dass Serienmörder in Schweden furchtbar selten sind, dass es aber sicher einige gegeben hat, die einfach nie überführt wurden.«
Mikael nickte. Sie hielt einen weiteren Finger in die Höhe.
»Diese Morde sind über einen sehr langen Zeitraum hinweg verübt worden, und an weit auseinanderliegenden Orten im Land. Zwei von den Morden wurden kurz hintereinander begangen, aber die Umstände sahen sich nicht sonderlich ähnlich - eine Bäuerin in Karlstad und eine zweiundzwanzigjährige Pferdenärrin in Stockholm.«
Dritter Finger.
»Es gibt kein offensichtliches Muster. Die Morde geschahen auf unterschiedliche Art und Weise, der Täter hat also keine deutliche Handschrift hinterlassen, aber gewisse Dinge kehren bei allen Fällen wieder. Tiere. Feuer. Brutalste sexuelle Gewalt. Und - wie Sie schon sagten - eine Bibelparodie. Aber anscheinend hat noch kein Ermittler der Polizei einen dieser Morde von der Bibel her interpretiert.«
Mikael nickte. Er warf Lisbeth einen verstohlenen Blick zu. Mit ihrem dünnen Körper, dem schwarzen Hemd, dem Tattoo und den Piercingringen im Gesicht wirkte sie in einem Gästehäuschen in Hedeby, gelinde gesagt, fehl am Platze. Als er beim Abendessen versucht hatte, ein bisschen Konversation zu betreiben, war sie einsilbig gewesen und hatte auch nur knappe Antworten gegeben, wenn er sie direkt ansprach. Aber bei der Arbeit wirkte sie bis in die Fingerspitzen wie ein Profi. In ihrer Wohnung in Stockholm sah es so aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen, doch Mikael nahm an, dass in ihrem Kopf die Dinge außergewöhnlich gut sortiert waren. Seltsam!