Allie zog einen ledernen Hocker heran und setzte sich neben mich, ein sehr heilsames Beginnen. Sie legte ihre Hand auf meine. Noch besser.
«Sie sind verrückt«, sagte sie.
Ich seufzte. Man konnte nicht alles haben.
«Haben Sie vergessen, daß ich heute abend abreise?«
«Nein«, sagte ich.»Obwohl es jetzt so aussieht, als müßte ich mein Angebot, Sie zum Flughafen zu bringen, zurückziehen. Ich glaube, ich bin nicht fahrtüchtig. Und mein Wagen ist auch weg.«
«Deswegen bin ich eigentlich gekommen. «Sie zögerte.»Ich will mich nicht mit meiner Schwester zanken…«Sie schwieg und ließ die familiären Spannungen unausgesprochen.»Ich wollte auf Wiedersehen sagen.«
«Und tschüs?«
«Wie meinen Sie?«
«Auf bald oder endgültig?«
«Was wäre Ihnen denn lieber?«
Charlie lachte leise.»Das scheint mir aber eine gefährliche Frage zu sein.«
«Sie sollen doch gar nicht zuhören«, sagte sie mit gespielter Strenge.
«Auf bald«, sagte ich.
«Gut. «Sie zeigte ihr strahlendes Lächeln.»Das ist mir recht.«
Charlie wanderte im Zimmer umher und schaute sich um, machte aber keine Anstalten zu gehen. Allie kümmerte sich nicht um ihn. Sie strich mir das Haar aus der Stirn und küßte mich sanft. Ich ließ es mir nur zu gern gefallen.
Bald darauf kam der Arzt. Charlie öffnete ihm und informierte ihn offenbar auf dem Weg nach oben. Er und
Allie verzogen sich in die Küche, wo ich sie frischen Kaffee kochen hörte.
Der Arzt half mir, mich bis auf die Unterhose freizumachen. Ich hätte viel lieber meine Ruhe gehabt. Er klopfte meine Reflexe ab, leuchtete mir in die Augen und Ohren und betastete meine vielen blauen Flecke. Dann setzte er sich auf den Hocker, den Allie herangeholt hatte, und kniff sich in die Nase.»Gehirnerschütterung«, sagte er.»Bleiben Sie acht Tage im Bett.«
«Seien Sie nicht albern«, protestierte ich.
«Wäre das beste«, meinte er knapp.
«Hindernisjockeys reiten und siegen mit einer Gehirnerschütterung.«
«Hindernisjockeys sind ausgemachte Narren. «Er musterte mich verdrießlich.»Wären Sie ein Jockey, würde ich sagen, ein Zwölferfeld ist über Sie hinweggetrampelt.«
«Und so?«
«Hat Sie jemand geschlagen?«
Das war keine Frage, wie man sie von seinem Arzt erwartet. Schon gar nicht so sachlich gestellt.
«Ich weiß es nicht«, sagte ich.
«Klar wissen Sie das.«
«Ich gebe zu, daß es mir ein bißchen so vorkommt, aber wenn man mich geschlagen hat, war ich bewußtlos.«
«Mit einem schweren, stumpfen Gegenstand«, ergänzte er.»Die Flecke sind groß. «Er deutete auf mehrere ausgedehnte, sich rötende Stellen an meinen Oberschenkeln, an Armen und Oberkörper.
«Ein Stiefel?«sagte ich.
Er sah mich nüchtern an.»Sie haben schon an die Möglichkeit gedacht?«
«Zwangsläufig.«
Er lächelte.»Ihr Freund, der mich hereingelassen hat, sagte, Sie seien auch betrunken gemacht worden, während Sie bewußtlos waren.«
«Ja. Schlauch in den Hals?«tippte ich an.
«In welchem Zeitraum?«
Ich grenzte es möglichst genau ein. Er schüttelte zweifelnd den Kopf.»Ich glaube nicht, daß in den Magen geleiteter Alkohol so schnell zu einer derartigen Vergiftung führt. Es dauert recht lange, bis eine so große Menge Alkohol durch die Magenwand in die Blutbahn absorbiert wird. «Er dachte laut nach.»Zwei Komma neun Promille… und Sie waren nach dem Schlag auf den Kopf vielleicht zwei Stunden oder etwas länger bewußtlos. Hm.«
Er beugte sich vor, ergriff meinen linken Unterarm und inspizierte ihn minuziös von allen Seiten. Dann machte er das gleiche mit dem rechten Arm und wurde fündig.
«Da«, rief er aus.»Sehen Sie das? Ein Einstich. Direkt in die Vene. Den haben Sie durch den Schlag, der das Gewebe rundherum gequetscht hat, zu vertuschen versucht. In ein paar Stunden ist der Einstich nicht mehr zu sehen.«
«Betäubungsmittel?«fragte ich zweifelnd.
«Nein, mein Lieber. Wahrscheinlich Gin.«
«Gin!«
«Warum nicht? Direkt in die Blutbahn. Sehr viel effizienter als ein Magenschlauch. Führt wesentlich schneller zum Ziel. Eigentlich tödlich. Und insgesamt weniger mühsam.«
«Aber… wie denn? Man kann doch eine Ginflasche nicht an eine Kanüle anschließen.«
Er grinste.»Nein, nein. Man würde einen Tropf legen. Mit physiologischer Kochsalzlösung. Gängige Ware. Gibt's in Plastikbeuteln in jeder Apotheke. Man gießt einfach einen halben Liter Gin in die Lösung und läßt sie direkt in die Vene tropfen.«
«Aber wie lange würde das dauern?«
«Na, so etwa eine Stunde. Ein böser Schock für den Organismus.«
Ich dachte darüber nach. Wenn es so geschehen war, dann hatte ich auf dem größten Teil der Fahrt nach London Gin ins Blut geträufelt bekommen. Um es noch an Ort und Stelle zu machen und dann loszufahren, war die Zeit zu knapp gewesen.
«Und wenn ich zu mir gekommen wäre?«fragte ich.
«Sind Sie zum Glück aber nicht. Wäre kein Problem gewesen, Sie wieder bewußtlos zu schlagen, denke ich mal.«
«Sie nehmen das alles sehr gelassen hin«, sagte ich.
«Sie doch auch. Und es ist ja auch interessant, nicht wahr?«
«Durchaus«, sagte ich trocken.
Kapitel 7
Charlie und Allie blieben zum Abendessen, das heißt, sie machten sich Omeletts und fanden noch etwas genießbaren Käse dazu. Charlie schien derweil Lücken gefüllt zu haben, denn als sie mit ihren Tabletts ins Wohnzimmer kamen, war Allie offensichtlich über ihn im Bild.
«Möchten Sie was essen?«fragte Charlie.
«Nein.«
«Trinken?«
«Seien Sie still.«
«Entschuldigung.«
Der Körper baut Alkohol sehr langsam ab, hatte der Arzt gesagt. Nur 0,1 Promille pro Stunde. Es gab keine Möglichkeit, den Vorgang zu beschleunigen, und kein Kraut war gegen den Kater gewachsen, man mußte ihn einfach durchstehen. Für Leute, die sonst wenig tranken, war es am schlimmsten, weil für den Organismus ungewohnt. Ihr Pech, hatte er lächelnd hinzugefügt.
2,9 Promille fielen in den Bereich Volltrunkenheit. Neunundzwanzig Stunden zum Ausnüchtern. Zehn hatte ich bis jetzt hinter mir. Kein Wunder, daß ich mich so gräßlich fühlte.
Während er sein Omelett aß, winkte mir Charlie mit der Gabel zu.»Was wollen Sie denn jetzt unternehmen?«
«Meinen Sie, ich soll zur Polizei gehen?«fragte ich mit unbeteiligter Stimme.
«Ehm… «
«Eben. Die Polizei kennt mich als den, dem sie heute nacht Gastfreundschaft gewährt hat, und der war so abgefüllt, daß alles, was er zur Anzeige bringt, halluziniert sein könnte.«
«Glauben Sie, Jody und Ganser Mays haben es deshalb gemacht?«
«Warum sonst? Und wahrscheinlich kann ich noch froh sein, daß sie mich nur diskreditiert haben, statt mich gleich um die Ecke zu bringen.«
Allie guckte entsetzt, was ich nett fand. Charlie sah es nüchterner.
«Leichen sind bekanntlich schwer zu beseitigen«, sagte er.
«Ich würde meinen, Jody und Ganser Mays haben schnell die Lage abgeschätzt und sich gesagt, daß es weit weniger gefährlich ist, Sie betrunken in London auszusetzen.«
«Es war noch ein anderer Mann dabei«, sagte ich und beschrieb meinen Freund mit der Sonnenbrille und den Muskelpaketen.
«Vorher schon mal gesehen?«fragte Charlie.
«Noch nie.«
«Der Mann fürs Grobe?«
«Vielleicht hat er auch Grips. Das kann ich so nicht sagen.«
«Eins ist sicher«, sagte Charlie.»Wenn es darum ging, Sie in Mißkredit zu bringen, wird sich Ihre kleine Eskapade bis morgen auf dem Turf herumgesprochen haben.«