Patrick legte die Hand auf ihre. »Das kann doch kein Zufall sein«, sagte er leise und beugte sich noch tiefer über sie. Sie konnte den Duft seiner Sandelholzseife riechen. »Wie kommt es, dass dieses Buch ausgerechnet bei dir landet? Das ist schon ein verdammt merkwürdiger Zufall, findest du nicht auch?«
Chel wandte sich wieder dem Computerbildschirm zu. In Qu’iche gab es kein Wort für »Zufall«, und das war nicht nur ein Übersetzungsproblem. Ihr Volk gebrauchte ein anderes Wort für das unerwartete Eintreten von Ereignissen, die alle in dieselbe Richtung deuteten. Es war dasselbe Wort, das Chels Vater in seinem letzten Brief aus dem Gefängnis verwendet hatte, als er spürte, dass der Tod nah war: ch’umilal.
Schicksal.
12.19.19.17.13 – 15. DEZEMBER 2012
19
Es war kurz nach sechs Uhr morgens, als Stanton das Haus verließ, um an einer Telefonkonferenz mit hochrangigen Verwaltungsbeamten aus L.A., Atlanta, Washington und anderen Städten teilzunehmen. Davies und Thane gingen unterdessen ein letztes Mal ihren gemeinsamen Plan in allen Einzelheiten durch. Die Sonne stieg nur langsam höher am Horizont und hatte die Luft über dem Meer noch nicht aufgeheizt. Es war kalt auf der menschenleeren Strandpromenade, und Stanton war mit seinem langärmeligen Hemd und der Jeans viel zu dünn angezogen. Das Knattern eines unsichtbaren Hubschraubers irgendwo in der Ferne war das einzige Geräusch, das mit dem Rauschen der Brandung wetteiferte.
Stanton blendete die routinemäßige Telefonschaltung aus, weil etwas anderes seine Aufmerksamkeit erregte. Ein paar Männer saßen unten am Strand. Alle trugen Schutzbrillen, und sie hatten ihre Liegestühle im Kreis aufgestellt. Im ersten Moment war Stanton völlig irritiert. Er konnte sich nicht vorstellen, wer so dreist war, gegen die Ausgangssperre zu verstoßen. Dann bemerkte er, dass sie genau dort saßen, wo sich die Anonymen Alkoholiker meist bei Sonnenaufgang trafen. Stanton fand es seltsam tröstlich zu wissen, dass einige Verabredungen eingehalten wurden, ganz egal, was passierte.
»Die Versorgungsbetriebe stoßen an ihre Grenzen«, sagte der Vertreter der FEMA, der Federal Emergency Management Agency, jetzt am Telefon. »Ohne Elektrizität keine Trinkwasserversorgung.«
In Los Angeles drohte schon seit Jahrzehnten eine Energiekrise. Jetzt, wo die halbe Stadt nicht mehr schlafen konnte vor Angst, waren Lampen, Fernseher, Computer rund um die Uhr eingeschaltet. Es kam immer öfter zu Stromausfall, weil das Netz überlastet war. Der Wasserverbrauch war ins Astronomische gestiegen. Es war nicht auszuschließen, dass binnen einer Woche kein Wasser mehr aus den Hähnen kam.
»Was machen wir mit den Toten?«, warf Stanton ein, obwohl er nicht an der Reihe war. »Überall in der Stadt könnten Leichen in den Häusern verwesen.«
»Wir müssen sie zu einer zentralen Sammelstelle schaffen«, antwortete jemand. Er erkannte die Stimme nicht; an jeder Entscheidung waren inzwischen unzählige Bürokraten beteiligt.
»Wir reden hier möglicherweise von ein paar Tausend in den nächsten Tagen«, sagte Stanton. Im gesamten Stadtgebiet waren über achttausend Fälle von VFI registriert worden. »Sie haben weder die Ausrüstung für eine potenziell tödliche Seuche dieses Ausmaßes, noch könnten Sie für die Sicherheit der Arbeiter garantieren.«
»Nun, wir müssen irgendetwas tun«, mischte sich Cavanagh ein. »Und es ist ganz unglaublich, dass ich das jetzt sage, aber vielleicht müssen wir die Leute bald auffordern, die Leichen in der Badewanne mit Säure oder Lauge zu übergießen, damit sie sich auflösen.«
Stantons Chefin nahm von einem Postamt in East L.A. aus an der Konferenz teil. Die Postfiliale war aus wirtschaftlichen Gründen geschlossen worden; jetzt hatte das CDC dort seine Kommandozentrale eingerichtet. Stanton konnte an Cavanaghs Stimme hören, wie sehr sie das alles belastete. Bis jetzt hatten sich zweiundvierzig Beamte und Krankenschwestern des Seuchenzentrums mit VFI infiziert, und Stanton kannte Cavanagh gut genug, um zu wissen, dass sie sich die Schuld daran gab. Sie hatte viele dieser Mitarbeiter persönlich ausgesucht und nach L.A. geschickt, damit sie bei der Seuchenbekämpfung halfen.
Als die Konferenz zu Ende war, bat Stanton seine Chefin, in der Leitung zu bleiben. Er, Davies und Thane würden die Antikörper in den nächsten vierundzwanzig Stunden so oder so einsetzen. Es war alles genauestens geplant. Aber wenn es ihm gelänge, Cavanagh davon zu überzeugen, dass das der richtige Weg war, würde ihnen eine größere Testgruppe zur Verfügung stehen und sie würden nicht gegen das Gesetz verstoßen.
»Emily, die Quarantäne wird durchlässig«, sagte er. »Bald wird man in jeder Stadt in Amerika diese Diskussion über Leichen und Badewannen führen müssen. Wir müssen über alternative Therapien reden.«
»Wir haben schon darüber geredet, Gabe.«
»Aber ich muss es noch einmal sagen. Wenn wir sofort anfangen, könnten wir in kürzester Zeit eine Antikörpertherapie entwickeln. In ein, zwei Tagen.« Er warf einen Blick über die Schulter auf sein Haus, wo bereits eifrig an dem Wirkstoff gearbeitet wurde. Er wollte sich lieber nicht vorstellen, wie Cavanagh reagieren würde, wenn sie es erfuhr. Aber falls die Patienten auf die Therapie ansprechen würden, hätte Cavanagh gar keine andere Wahl, als einem Versuch in großem Umfang zuzustimmen.
Der Hubschrauber kam näher, er kreiste irgendwo hinter Stanton.
»Ich werde mit dem Boss reden«, sagte Cavanagh schließlich. »Vielleicht kann er das Weiße Haus überreden, ein Dekret zu erlassen, damit die FDA auf das normale Zulassungsverfahren verzichtet.«
»Die FDA wird sich Zeit lassen. Wie üblich.«
»Wir wollen alle das Gleiche, Gabe«, sagte Cavanagh resigniert und beendete das Gespräch.
Stanton war frustriert. Sie ließ ihm keine Wahl. Als er ins Haus zurückwollte, klingelte sein Handy erneut.
Er nahm das Gespräch an. »Haben Sie etwas gefunden?«
»Dr. Stanton? Hier ist Chel Manu.«
»Ja, ich weiß. Also? Haben Sie noch etwas gefunden?«
»Sorry. Ja. Ja, wir haben noch etwas gefunden. Es könnte … hilfreich sein. Es ist richtig gut.«
Es war eine willkommene Abwechslung, eine lebhafte, ja sogar zuversichtliche Stimme zu hören. »Gut ist gut«, erwiderte er. »Erzählen Sie.«
Als sie ihm von ihrer Entdeckung erzählte – dass sich der ermittelte Längengrad der antiken Stadt offenbar in unmittelbarer Nähe zu dem Dorf befand, in dem sie geboren worden war –, wusste Stanton nicht, was er davon halten sollte. Aber hatte er überhaupt eine Wahl? Ihm blieb gar nichts anderes übrig, als ihr zu vertrauen. Jeder sagte ihm, sie wisse genau, was sie tue. Und dennoch kam sie immer wieder mit Geschichten daher, von denen eine abenteuerlicher war als die andere. Alles in ihrer Arbeit und in ihrem Leben schien stets zum Ausgangspunkt zurückzuführen.
»Und Ihnen war nicht klar, dass Volcy aus Ihrem Dorf kam?«, fragte Stanton ungläubig.
»Wir wussten, dass er aus Petén stammte. Aber an Kiaqix habe ich nicht im Traum gedacht. Und Volcy hatte Angst. Auf meine Fragen nach seinem Dorf hat er immer ausweichend geantwortet.«
»Sind das alles nur Vermutungen oder haben Sie handfeste Beweise für Ihre Geschichte?«
»Es gibt kein Telefon in Kiaqix, aber ich habe mit einem Cousin von mir gesprochen, der in Guatemala City wohnt. Er fährt regelmäßig nach Kiaqix, um seinen Vater zu besuchen. Ich habe ihn gebeten, sich im Internet auf einer Nachrichtenwebsite das Foto von Volcy anzusehen, das an die Medien rausgegeben wurde, und er hat ihn wiedererkannt.«
Der Hubschrauber knatterte jetzt direkt über Stanton. Er blickte auf und sah, dass es nicht nur einer war, sondern zwei. Sie flogen ziemlich tief und schienen direkt auf den Strand zuzuhalten. Der eine war groß und sah aus wie eine Militärmaschine. Der andere war kleiner – vier Plätze unter einer Glashaube. Sekunden später setzten sie nacheinander auf dem Boden auf, etwa hundert Meter den Strand hinauf. Das war eines der merkwürdigsten Bilder, die Stanton an der Strandpromenade je gesehen hatte, und das wollte verdammt viel heißen.