DIE HANDELNDEN PERSONEN
Celia Brooks, ein Mädchen aus Essex
Ned Brooks, Seemann, Celias verschollener Vater
Mary Brooks, ihre verstorbene Mutter
Rupert Ingram, Hoteliersohn
Harvey Ingram, sein Vater, Hotelier und Witwer
Mortimer & William Ingram, Ruperts ältere Brüder
Meredith Wright Barclay, Ruperts Verlobte aus Bury Hill, Dorking
Robert Barclay, Bierbrauer (Barclay, Perkins & Co.), Merediths Onkel
Graham Maggott, genannt Gray, Laufbursche im Crown Hotel
Simeon Solomon, Maler und Ruperts Freund
Eva Booth, Captain der Heilsarmee, Tochter von William Booth, dem Gründer und 1. General der Heilsarmee
Florence Soper Booth, Evas Schwägerin, Leiterin des Frauenasyls
Adam Bedford, ein Heilsarmist
Heather, Obdachlose und Gelegenheitshure
Maureen Watson, genannt Sheila, die Schlangenfrau, Bühnendarstellerin
Mary Jane Kelly, genannt Ginger, Prostituierte
Joseph Barnett, Fischträger, ihr Lebensgefährte
Elizabeth Stride, genannt Long Liz, Prostituierte und Mordopfer
Michael Kidney, Hafenarbeiter, ihr Lebensgefährte
Rod(ney) Webster, Wirt des George Inn
Tom Dudley, Kapitän der Mignonette
Edwin Stephens, Maat auf der Mignonette
Richard Parker, genannt Dick, Kabinenjunge
ERSTER TEIL
»O, where shall I go to, or what can I do?
I’ve no one to tell me what course to pursue;
I’m weary and foot sore, I’m hungry and weak,
I know not what shelter to-night I may seek.«
(»Oh, wo soll ich hingehen, oder was kann ich tun?
Ich habe niemanden, der mir sagt, welchen Weg ich einschlagen soll;
Ich bin müde, meine Füße sind wund, ich bin hungrig und schwach,
Ich weiß nicht, welchen Schutz ich heute Nacht suchen kann.«) William S. Hays, Driven from home, 1868
DONNERSTAG, 18. OKTOBER 1888
1
Celia war noch nie zuvor in London gewesen, und trotz der zahlreichen und ausführlichen Erzählungen ihrer Mutter war sie nicht auf das gefasst, was sie in der Hauptstadt erwartete. Als sie aus dem überfüllten Abteil der dritten Klasse auf den Bahnsteig des Bahnhofs Waterloo stieg, da war es ihr, als beträte sie eine fremde Welt. Die Größe und Unübersichtlichkeit dieses verschachtelt gebauten Bahnhofs schüchterten Celia ein, und die Menschenmassen und das aggressive Gedränge auf dem Bahnsteig nahmen ihr im wahrsten Sinn des Wortes die Luft. Es war, als hätten die Leute die Absicht, sich gegenseitig von der Plattform zu stoßen. »London ist wie zwei Bienenvölker in einem Bienenschlag«, hatte ihre Mutter oft gesagt, und jetzt begriff Celia, was sie damit gemeint hatte.
Kofferträger und Kutscher bedrängten die Passagiere der London and South Western Railway* und wollten sie zu ihren Wagen locken, aufdringliche Händler boten Essen und Getränke an, Männer mit umgehängten Pappschildern machten Werbung für umliegende Hotels oder Gasthäuser, und Zeitungsjungen hielten Gazetten in die Luft und posaunten die Schlagzeilen des Tages heraus: »Neuer Brief des Rippers! Polizei tappt weiter im Dunkeln! Bürgerwehr fordert Belohnung! Jack the Ripper schickt Brief! Lesen Sie alles darüber!«
Kaum hatten Celias Füße das Pflaster des Bahnsteigs berührt, schon wurde sie vom Strom der Menschen mitgerissen, in Richtung der Ausgänge, die sich auf der Nordseite des Kopfbahnhofs befanden. Die Waterloo Station schien aus vielen kleineren Bahnhöfen zu bestehen, die wie ein Strauß Blumen von unterschiedlicher Länge und Größe gebündelt waren. Da es keine zentrale Empfangshalle gab und der eine Bahnsteig oft nur zu einer weiteren, höher oder tiefer gelegenen Plattform führte, mussten sich die Passagiere den Weg zu den Ausgängen durch unterirdische Tunnel oder über Fußbrücken erkämpfen; verfolgt von den lärmenden Heerscharen, die schon auf dem Bahnsteig auf sie einstürmten.
Während Celia an den braunen Waggons und der erbsengrünen Lokomotive vorbeigeschoben wurde und aufpassen musste, nicht zwischen die Wagen aufs Gleisbett zu geraten, wünschte sie sich zurück nach Southampton, wo am Morgen ihre Reise begonnen hatte. Oder besser gleich nach Brightlingsea in Essex, wo sie bis vor wenigen Tagen zu Hause gewesen war. Wie gern hätte sie in diesem Moment an der Mündung des Flüsschens Colne gesessen, den Dockarbeitern und Fischern am Hafen zugeschaut oder ihre Angelrute in den Brightlingsea Creek gehalten, wie sie es als Kind oft an den Wochenenden getan hatte. Damals, als ihre arme Mutter noch gelebt hatte und ihre älteren Brüder Peter und John noch nicht den Atlantik zwischen Liverpool und New York befahren hatten. Als Celias Vater noch eine verblassende Erinnerung und nicht ihr letzter verzweifelter Hoffnungsanker gewesen war.
»Pass doch auf, verdammt!«, schimpfte eine Frau.
Celia war ihr vor der schmalen Treppe zu einer Fußgängerbrücke versehentlich auf den Rocksaum getreten. »’tschuldigung, Ma’am«, murmelte sie erschrocken und hätte um ein Haar den braunen Lederkoffer fallen gelassen, in dem sich ihr gesamtes Hab und Gut befand. Sie klammerte sich an den Koffer wie an einen Rettungsring und ließ sich von der Menge über die Brücke zu einem der beiden Ausgänge treiben. Als sie schließlich einen kleinen überdachten Vorplatz erreichte, an dem zahlreiche Droschken, Mietkutschen und Lastkarren auf Kundschaft warteten, wandte sie sich an einen der schwarz uniformierten Kutscher, der ihr eilfertig die vordere Klappe des zweirädrigen Hansom Cabs aufhielt.
»Steigen Sie nur ein, Miss!«, rief er und lüpfte den fettfleckigen Bowler. »Wo soll die Reise hingehen?«
»Können Sie mir sagen, wie ich ins East End komme?«, fragte Celia und lächelte schüchtern. »Ich muss zur Whitechapel Road.«
»Whitechapel?« Der Kutscher machte ein überraschtes Gesicht. »Keine Gegend für ’ne hübsche junge Miss, gerade in dieser Zeit.« Er hob bedeutungsvoll die Brauen und deutete auf einen Zeitungsjungen, der krächzend seine Gazette anpries. Als Celia nicht darauf reagierte, zuckte er mit den Schultern und wies mit der Hand auf sein Cabriolet. »Bitte einzusteigen.«
»Ich habe kein Geld«, erwiderte Celia. Jedenfalls nicht für eine Kutschfahrt, setzte sie in Gedanken hinzu. »Könnten Sie mir die Richtung zeigen?«
Die Miene des Kutschers nahm schlagartig einen säuerlichen Ausdruck an. Vermutlich weil er seine Zeit vergeudet und andere Kunden unbehelligt vorbeigelassen hatte. Sofort wandte er sich an einen jungen Gentleman, der sich eilends von hinten näherte, Celia grob zur Seite stieß und sie dabei achtlos mit seinem Reisekoffer streifte.
»Bitte einzusteigen, Sir«, sagte der Kutscher, nahm dem jungen Mann den Koffer ab und fragte: »Wo soll es hingehen?«
»Piccadilly, Ecke Dover Street«, antwortete der Mann, nahm den eleganten Zylinder vom Kopf, schüttelte sein langes, in der Mitte gescheiteltes Haar und stieg in das vorne offene Hansom Cab ein. »Zum Hatchett’s Hotel, aber etwas plötzlich, mein Guter!« Er strich seinen Gehrock glatt, klappte den vorderen Beinschutz herunter und fuhr sich geziert über den blonden Schnauzbart, der noch sehr an kindlichen Flaum erinnerte.
Celia betrachtete den Gentleman neugierig, nicht nur weil er ein ebenso hübscher wie hochnäsig wirkender Mann war, sondern vor allem wegen eines auffälligen Muttermals auf seiner rechten Wange, das nur leidlich von einem dünnen Backenbart verdeckt war. Das Mal hatte die Größe einer Half-Crown-Münze und die Form eines Herzens.