Lange Zeit konnte ich nicht verstehen, wieso das solch ein Problem für meine Lehrer war. Ich wurde dazu ausgebildet, das Böse zu bekämpfen, zu wissen, wer die wahren Feinde der Menschheit waren und wie man sie besiegte; also war es doch bestimmt umso besser, je mehr ich über sie wusste. Wann immer ich etwas infrage stellte, jedes Mal wurde mir gesagt, ich solle einfach die Klappe halten und weitermachen wie alle anderen auch, denn nur Leute, die älter und mir geistig überlegen seien, könnten das Große Bild sehen. Also las ich eben weiter und versuchte es auch zu sehen.
Das Problem mit der Drood-Familienbibliothek ist die verdammte schiere Größe von dem Ding. Meilen über Meilen von Bücherregalen und -brettern, die das gesamte untere Stockwerk des Südflügels einnehmen, jedes zum Bersten vollgepackt mit dem geballten Wissen und der gesammelten Weisheit von Jahrhunderten. Bücher, geschrieben in jeder Sprache unter der Sonne, und manche auch in Sprachen von dunkleren Orten, darunter ein paar derart arkane Dialekte, dass menschliche Stimmbänder sie nicht laut aussprechen können. Also las ich, was ich konnte, im Original, und setzte dem Bibliothekar unaufhörlich zu, bis er mir die Übersetzungen für diejenigen heraussuchte, bei denen ich das nicht konnte. Ein komischer Kauz, der Bibliothekar. Trug schreiend bunte Pullover, auch im Sommer, und ging jedes Wochenende Motocrossrennen fahren. Er verschwand plötzlich, Jahre bevor ich wegging. Wir haben nie herausgefunden, was ihm zugestoßen ist.
Ich wanderte ziellos durch die Regale und strich mit den Fingerspitzen leicht über die ledernen Buchrücken. Wir glauben an Bücher. Computerdateien können gehackt werden; Papier nicht. Der einzige Weg, Zugang zu den Informationen in dieser Bibliothek zu erhalten, ist, persönlich hierherzukommen. Und der einzige Weg, das zu tun, ist, Teil der Familie zu sein.
»Hallo, Eddie! Schön dich wiederzusehen!«
Ich drehte mich um, bereits ein Lächeln auf den Lippen, denn ich wusste, wer das war, wer es sein musste. Es gab nur ein lebendes Familienmitglied, das sich tatsächlich freuen würde, mich wiederzusehen. Mit großen Schritten kam Onkel James auf mich zu, um mich zu begrüßen, eine Hand ausgestreckt, um mir einen festen, männlichen Händedruck zu geben. Er sah fabelhaft aus, wie immer, perfekt ausgestattet mit dem stilvollsten dreiteiligen Anzug, der für Geld zu haben war, und sah vom Scheitel bis zur Sohle wie der verwegene Abenteurer aus, der er war. Onkel James war hochgewachsen, auf düstere Weise gut aussehend, mühelos elegant und sardonisch und in echt guter Verfassung für einen Mann in den Endfünfzigern. Sein auffälliges Gesicht hatte mehr als seinen gerechten Anteil an Charakterfalten, aber sein Haar war immer noch pechschwarz. Sein Begrüßungslächeln war breit und ungekünstelt, doch selbst mir gegenüber blieb eine Spur der eisigen Kälte, die seine Augen nie verließ.
James war mir immer das liebste Mitglied der Familie gewesen. Nachdem mein Vater und meine Mutter ums Leben gekommen waren, wurde James für mich das, was einem Elternteil am nächsten kam. Er nahm einen widerspenstigen, schweigsamen, verlorenen und introvertierten Jungen und gab ihm einen Grund zu leben. Er fand Sachen, die mein Interesse weckten und mich forderten, ermutigte mich in meiner Auflehnung und gab meinem Lernen ein Zieclass="underline" All die schlechten Menschen auf der Welt zu bekämpfen, die dafür verantwortlich waren, dass so viele Kinder zu Waisen wurden. Er brachte mich zurück aus mir selbst und ermöglichte es mir, wieder glücklich zu sein. Wenn ich jemals einen Helden hatte, dann war es Onkel James. Er war der Letzte der großen Abenteurer; er zog in den guten Krieg wie ein Verhungernder zu einem Festmahl. Er hatte die größte Erfahrung und mehr Aufträge erfolgreich durchgeführt als irgendein anderes Mitglied der Familie. Sein Rufname war ein Fluch auf den Lippen der Gottlosen, mit dem man Unterhaltungen in Bars und Spelunken auf der ganzen Welt zum Verstummen bringen konnte. Sie nannten ihn den Grauen Fuchs, und er verkörperte alles, was zu sein ich jemals anstrebte.
Er war auch der Erste, der mir riet, das Herrenhaus zu verlassen und meine eigenen Wege zu gehen, bevor das Beharren der Familie auf Pflicht und Tradition mir den Schwung nahm. Ich habe immer geglaubt, der einzige Grund, weshalb mir überhaupt erlaubt wurde, aus solcher Entfernung zu operieren, ist der, dass Onkel James sich bei der Matriarchin für mich eingesetzt hat. Nicht dass ich das jemals erwähnt hätte, selbstverständlich; es hätte ihn nur in Verlegenheit gebracht.
»Es ist schön, dich wiederzusehen, Onkel James«, sagte ich. »Zehn Jahre ist es jetzt her, und doch ist da seltsamerweise nicht eine Spur von Grau an deinen Schläfen …«
»Anständiges Leben und heftiges Trinken«, sagte er leichthin. »Du hast zugenommen, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe. Steht dir.«
»Weißt du, weshalb man mich zurückgerufen hat?«, fragte ich unverblümt.
»Hab keinen Schimmer, Eddie. Ich bin nur zu einem kurzen Besuch zwischen zwei Missionen hier. Ein weiches Bett, eine gute Mahlzeit und ein Bummel durch die Weinkeller, bevor sie mich wieder fortschicken. Ich komme gerade vom Amazonas zurück, wo ich Dr. Delirium eine blutige Nase verpasst habe, und sobald ich hier ein paar Recherchen angestellt habe, bin ich auch schon wieder weg, um die Schattenboxer von Schanghai zur Schnecke zu machen. Du weißt ja, wie es ist; eine verdammte Sache nach der anderen.«
»Ich bin ja so neidisch!«, sagte ich und musste wider Willen grinsen. »Du kriegst immer die glamourösesten Aufträge; ich selbst durfte noch nicht ein einziges Mal auch nur außer Landes.«
Er zog eine Augenbraue hoch, während er sich mit seinem goldenen Feuerzeug mit Monogramm eine schwarze russische Zigarette anzündete. »Nun, du weißt, wieso das so ist, Eddie. Aber du leistest gute Arbeit. Die Leute bemerken das. Je mehr Aufträge du erfolgreich abschließt, desto mehr Vertrauen wirst du dir verdienen und desto mehr Leine werden sie dir geben.«
»Aber ganz von der Leine lassen werden sie mich nie, stimmt's? Ich werde nie frei von der Familie sein.«
»Warum solltest du das auch wollen? Du bist Teil des wichtigsten Erbes auf der Welt.« James blickte mir direkt und sehr ernst in die Augen. »Als Drood geboren zu werden, ist ebenso ein Privileg wie auch eine Verantwortung. Wir erfahren die Wahrheit darüber, wie die Dinge wirklich sind, und uns bleibt es überlassen, die Kämpfe zu bestreiten, auf die es wirklich ankommt. Und wenn wir dafür von allem das Beste bekommen, dann geschieht das deshalb, weil wir es verdient haben. Und alles, was die Familie je verlangt hat, ist Loyalität.«
»Wir sind schon bei unserer Geburt für einen Krieg ausgewählt, der niemals endet«, erwiderte ich und hielt seinem Blick entschlossen stand. »Und die meisten von uns lassen ihr Leben in diesem Krieg, fernab der Familie und der Heimat. Manche von uns lernen nie ihre Eltern kennen und manche Eltern nie ihre Söhne. Ich weiß: Es ist eine Ehre zu dienen. Aber ich wäre gern gefragt worden.«
Und das war der Moment, in dem Generalalarm geschlagen wurde, so als ob sämtliche Glocken und Sirenen der Welt auf einmal losgingen. Wie ein Mann drehten James und ich uns um und rannten zurück durch die Bibliothek. Wir stürmten auf den Gang hinaus und hätten um ein Haar den Seneschall über den Haufen gerannt, der an uns vorbeistürzte, eine Waffe in jeder Hand. James packte ihn an der Schulter, zerrte ihn herum und brachte ihn zum Stehen, während Familienmitglieder aus allen Richtungen angelaufen kamen.
»Es ist das Herz!«, schrie der Seneschall, riss sich los und raste den Gang hinunter. »Es ist ein Angriff aufs Sanktum!«