»Haltet es auf!«, schrie James. »Es darf das Herz nicht berühren!«
Der Seneschall hatte schon das Feuer eröffnet und ballerte mit beiden Pistolen gleichzeitig drauflos. James ging mit großen Schritten nach vorn und pumpte die blutige Gestalt aus nächster Nähe mit Kugeln voll, und ich war direkt bei ihm und schoss mit meinem Nadelrevolver. Alle anderen im Sanktum eröffneten das Feuer auf die Masse mit allem, was sie an Waffen hatten, drängten unter Missachtung ihrer eigenen Sicherheit vorwärts, um das Herz zu beschützen. Zauberer entfesselten Flüche und Verdammungen und Wissenschaftler schossen seltsame Energien aus noch seltsameren Waffen ab … und nichts davon nützte etwas. Die blutige Gestalt absorbierte unsere Kugeln und alles andere mit derselben Gleichgültigkeit, schob sich langsam, aber unerbittlich weiter auf das Herz zu. Goldgepanzerte Hände, die Mauern durchschlagen oder Stahl zertrümmern konnten, hieben wild auf die fleischige Masse ein, und sie ignorierte uns einfach. Ein gepanzerter Mann stellte sich ihr trotzig in den Weg. Die scharlachrote Form saugte ihn ein und spie ihn auf der anderen Seite wieder aus. Er zappelte schwach auf dem Boden herum und schrie wie die frisch Verdammten.
Ich packte James am Arm und brachte ihn dazu, mich anzusehen. »Ruf sie weg! Auf dich werden sie hören. Ich habe eine Idee!«
Er blickte mich an, dann nickte er knapp und befahl der Familie den Rückzug. Augenblicklich wichen alle zurück. Sie vertrauten James, wo sie mir fast sicher nicht vertraut hätten. James schaute mich erwartungsvoll an. Ich griff durch die Seite meiner Rüstung, zog die tragbare Tür aus der Tasche, aktivierte sie und warf sie in die Bahn der blutigen Kreatur, während sie vorwärtswogte, genau wie ich es bei dem Hyde im Wolfskopf getan hatte. Die tragbare Tür rutschte sauber an die anvisierte Stelle, zündete, stotterte ein paarmal und lag dann einfach inaktiv da: Ich hatte sie zu oft benutzt; die Batterien waren leer.
James schaute mich immer noch an. Hinter der glänzenden goldenen Maske konnte ich sein Gesicht nicht sehen, aber ich konnte seinen Ausdruck erraten. Er hatte mir vertraut, und ich hatte ihn enttäuscht. Ich sah wieder auf die Gestalt: Sie war jetzt fast über dem Herzen. Ich dachte angestrengt nach, schaute mich verzweifelt im Sanktum um auf der Suche nach einer Eingebung, und dann fiel mein Blick auf das Dutzend Torques, die verlassen auf dem Boden lagen, zurückgeblieben, als ihre Besitzer ihres Fleischs beraubt worden waren, um die blutige Gestalt zu erschaffen. Ich machte einen Satz nach vorn, packte eine Hand voll der goldenen Halsreifen, hob meine goldene Faust und schlug die Torques direkt durch die dunkel geäderte, kanzeröse Seite der Kreatur. Ich presste sie tief in die Masse hinein, ließ die Torques los und versuchte dann, meine Hand zurückzuziehen - aber sie steckte fest.
Eine entsetzliche Kälte, des Geistes ebenso wie des Körpers, kroch an meinem Arm hoch. Ich glaube, ich schrie auf. Und dann war James an meiner Seite und zog mit all seiner Kraft an meinem eingeklemmten Arm. Einen schrecklich langen Moment lang reichte nicht einmal unsere vereinte Stärke, und dann kam meine Hand mit einem Ruck aus der blutigen Masse, und James und ich taumelten zurück. Ich brüllte laut die Worte, die die lebende Rüstung aktivierten, jene Worte, die wir normalerweise immer nur innerlich sprechen, und die fünf Torques im Inneren der blutigen Gestalt aktivierten sich. Alle auf einmal.
Im Inneren der krebsigen, fleischigen Masse taten die Torques das, worauf sie programmiert waren: Sie identifizierten ihre Besitzer - oder in diesem Fall das, was noch von ihnen übrig war - und schlossen sie in lebender Rüstung ein. Goldene Scherben brachen aus der roten und purpurnen Gestalt hervor und schnitten sie in Stücke. Die blutige Masse setzte sich zur Wehr, kämpfte darum, die Einheit der Form, die sie angenommen hatte, aufrechtzuerhalten, aber die Fortschritte der Torques waren unaufhaltsam. Einmal in Gang gesetzt, konnte ihre Verwandlung von nichts und niemandem aufgehalten werden. Die blutige Gestalt brach zusammen, und ein lautloses Wutgeheul erfüllte einen Moment lang unser aller Köpfe, als das Wesen von Draußen aus dem Sein gezerrt wurde und seine Gewalt über unsere Realität abriss. Auf dem Boden vor dem Herzen, in schrecklicher, unnatürlicher Haltung, lagen fünf goldene Rüstungen, umringt von blutigen Fleischstücken. Ich wollte nicht darüber nachdenken, was diese Rüstungen enthielten.
Das bedrückende Gefühl der eindringenden Präsenz war verschwunden. Die Glocken und Sirenen verstummten abrupt, und eine gesegnete Stille senkte sich über das Sanktum. Einer nach dem anderen rüsteten wir ab, goldene Gestalten machten Männern und Frauen mit schockierten, traumatisierten Gesichtern Platz. James klopfte mir auf die Schulter.
»Gut gemacht, Eddie! Guter Einfall!«
Langsam und hintereinander begannen die Leute aus dem Raum zu marschieren. Das Herz war sicher. Alle gingen wieder an ihre normalen, alltäglichen Aufgaben zurück. Manche standen unter Schock; manchen musste geholfen werden. Manche waren unverhüllt wütend oder verängstigt, weil das Herrenhaus nicht länger der sichere Ort war, der es früher immer gewesen war. Manche jammerten über den Verlust von Freunden oder Geliebten. Man konnte es ihnen nicht verübeln. Die meisten in der Familie bekommen nie praktische Arbeit zu sehen, nie irgendeine Art von Taten, sehen nie das Blut und das Leiden und den Tod, der im Kern dessen liegt, was die Droods tun und sind. Heute Nacht würde es in den vier Flügeln viele Schlaftabletten und schlechte Träume geben.
Der Seneschall hatte sich schon ein paar der hartgesotteneren Gemüter geschnappt und an die Arbeit gesetzt, und das Aufräumen hatte begonnen. Er sah mich nicht einmal an. Ich mochte gerade die Lage und das Herz und möglicherweise die ganze Familie gerettet haben, doch er traute mir nach wie vor nicht. Und keiner der anderen gratulierte mir, als sie gingen. Auch von ihnen sah mich kaum einer an. Keiner wollte gesehen werden, wie er mit mir sprach, wollte nicht einmal dem Mann zu nahe kommen, der der Familientradition und -verantwortung den Rücken gekehrt hatte, für den Fall, dass etwas von meiner Unabhängigkeit auf sie abfärbte. James legte Wert darauf, neben mir zu stehen; seine Hand lag noch auf meiner Schulter.
Den Grauen Fuchs respektierten alle.
Endlich verließen wir gemeinsam das Sanktum und traten auf den Gang hinaus. Kaum hatten wir den Gestank von Blut und Fleisch und Eingeweiden hinter uns gelassen, entfalteten die altvertrauten Gerüche nach Holz und Politur und frischen Blumen ihre stärkende Wirkung. Ich atmete tief ein und bekam wieder einen klaren Kopf. Die uralten, soliden Mauern, deren lange Geschichte von Dienst und Tradition erzählte, wirkten dieses eine Mal tatsächlich beruhigend.
»Dieser Angriff ist ohne Präzedenz!«, sagte James. Er sprach zwar mit gesenkter Stimme, während wir gingen, aber dennoch lag eine kalte Wut darin, die beunruhigend nah an der Oberfläche war. »Nicht nur hat sich etwas mir nichts, dir nichts den Weg durch die Verteidigungsanlagen des Herrenhauses gebahnt, und durch die des Herzens - es hat auch tatsächlich Droods umgebracht! Direkt hier inmitten der Familie! Das ist noch nie da gewesen! Wir sollten hier eigentlich sicher sein, geschützt vor allen Bedrohungen und Gefahren.«