»Das ist noch nie da gewesen?«, vergewisserte ich mich. »Ich meine, niemals?«
James sah mich einen langen Moment an, als ob er sich entscheiden müsste, wie weit er mir eigentlich vertraute. »Es hat zwei frühere Angriffe auf das Herz gegeben«, sagte er schließlich so leise, dass ich mich anstrengen musste, um ihn zu verstehen. »Niemand wurde verletzt, und keiner der Angriffe kam so nah heran, aber dennoch …«
»Jesus! Kein Wunder, dass die Matriarchin sich damit beschäftigt hat, die Verteidigungsanlagen des Herrenhauses aufzumöbeln …«
James blickte mich merkwürdig an. »Woher weißt du das, Eddie?«
»Ich habe kurz mit dem alten Jacob gesprochen. Ihm entgeht nicht viel.«
»Ah, ja. Natürlich. Du hast diesen widerlichen alten Taugenichts ja schon immer gemocht. Du musst das verstehen, Eddie. Das Herrenhaus war, seit wir hier eingezogen sind, immer ein sicherer Hort. Niemand war je in der Lage, unsere Verteidigungsanlagen zu knacken, geschweige denn tatsächlich das Herz zu bedrohen. Es ist nur eine Antwort möglich - ein Spitzel. Ein Verräter in der Familie, der die Geheimnisse unserer Schutzvorrichtungen preisgibt.«
Ich war so schockiert, dass ich abrupt stehen blieb und ihn mit offenem Mund anglotzte. In der Vergangenheit waren Familienmitglieder weggegangen oder waren als aus der Art geschlagen erklärt und vertrieben worden, aber keiner war jemals zum Verräter geworden und hatte von innen daran gearbeitet, uns an unsere Feinde zu verraten … Es war undenkbar.
»Ist das der Grund, weshalb mir alle so auffällig die kalte Schulter zeigen?«, fragte ich schließlich. »Bin ich deshalb zurückgerufen worden?«
»Ich weiß es nicht, Eddie. Die Matriarchin … hat mich nicht so ins Vertrauen gezogen wie sonst. Also: Halt die Augen auf, solange du hier bist. Paranoia erzeugt Misstrauen. Falls nämlich die Familie ihren Verräter nicht identifizieren kann, werden sie sich womöglich einfach einen ausgucken.«
Wir gingen zusammen weiter, zurück durch die vielen Zimmer und Korridore des Herrenhauses, vorbei an großartigen Kunstwerken, die wir alle einfach als selbstverständlich betrachteten. Rembrandts. Goyas. Schalckens. Das Herrenhaus ist vollgestopft mit unbezahlbaren Gemälden und Skulpturen und wertvollen Dingen, gestiftet über die Jahrhunderte von Prinzen und Mächten und Regierungen. Sie waren immer ausgesprochen dankbar für alles, was die Familie für sie tat. Und dann waren da noch die Zurschaustellungen von Waffen und all der anderen Kriegsbeute, die wir angehäuft haben. Die Familie ist vielleicht nicht besonders sentimental bezüglich ihrer Vergangenheit, aber sie wirft niemals etwas Nützliches weg.
»Jemand testet uns«, sagte James nach einer Weile. »Testet die Informationen seines Verräters, probiert, wie weit er kommen kann, bevor wir ihn aufhalten. Aber wer? Die Umgehenden Leichentücher? Die Abstoßenden Abscheulichen? Das Kalte Eidolon? Die Alraunenwiedervereinigung?« Er schüttelte nachdenklich den Kopf. »Es gibt so viele davon - und so wenige von uns.« Und dann lächelte er mich an, mit seinem alten Sollen-sie-doch-alle-zur-Hölle-fahren-Lächeln, und klopfte mir nochmal auf die Schulter. »Lass sie nur kommen! Lass sie alle kommen! Wir sind Droods, und wir sind dazu geboren, in übernatürliche Ärsche zu treten. Richtig?«
»Verdammt richtig!«, sagte ich.
Kapitel Fünf
Fernwahrnehmung
Als der Seneschall mich endlich suchen kam, standen Onkel James und ich vor einer alten Karikatur von Boz, die den guten alten Jacob im besten Mannesalter zeigte, wie er sich vor dem Parlamentsgebäude an einer Unterhaltung zwischen Gladstone und Disraeli beteiligte. (Einer dieser beiden verehrten Premierminister war in Wahrheit ein Drood mütterlicherseits, aber ich kann mir nie merken, welcher.) Gott allein weiß, was die drei da besprachen, aber den Mienen Disraelis und Gladstones nach zu urteilen erzählte ihnen Jacob fast sicher einen seiner berühmt schmutzigen Witze. Jacob konnte einer Nonne den Schlüpfer aus vierzig Schritt Entfernung wegschocken. Sowohl James als auch ich hörten den Seneschall kommen, behielten jedoch unsere Aufmerksamkeit bewusst auf das Kunstwerk gerichtet, bis der Seneschall gezwungen war, seine Gegenwart mit einem etwas würdelosen Hüsteln kundzutun. James und ich drehten uns ohne Eile um und sahen ihn naserümpfend an.
»Nun?«, sagte James gedehnt mit jener aufreizend versnobten Stimme, derer er sich bisweilen befleißigte. Es war bekannt, dass er schon Kneipenschlägereien mit weniger vom Zaun gebrochen hatte. Diesmal gab er sogar noch eine hochgezogene Augenbraue drein. »Gibt es schon irgendwelche Informationen bezüglich dessen, wie ungeachtet all unserer legendären Sicherheitssysteme ein derart erschreckender Überfall auf das Herz stattfinden konnte?«
Man musste dem Seneschall Gerechtigkeit widerfahren lassen: Der Mann starrte bloß ungerührt zurück. »Eine Untersuchung der Sicherheitsverletzungen ist im Gange, Sir.«
»Das hieße dann also nein. Sonst noch etwas?«
Der Seneschall warf James einen bedeutungsvollen Blick zu, und der nickte, wissend, dass er den Bogen so weit gespannt hatte, wie er durfte. Er drehte dem Seneschall den Rücken zu und lächelte mich herzlich an. »Es ist Zeit, dass ich mich auf den Weg mache, Eddie. Die Gottlosen harren meiner, und es wird Prügel setzen. Ein neues aufregendes Abenteuer liegt vor mir in den zotigen und pöbelhaften Seitengassen und Kneipen des fabelhaften Schanghais!«
»Ich könnte heulen!«, sagte ich voll Gefühl. »Solche Aufträge kriege ich nie! Ich nehme an, es wird sich alles um guten Alk, lasterhafte Frauen und jede Menge unnötige Gewalt drehen?«
»Ja, ja«, bestätigte James. »Immer dieselbe Leier, immer dieselbe Leier!«
Wir lachten, er zerquetschte meine Hand in seiner, und weg ging er, mit großen Schritten, würdevoll die Galerie hinunter, auf der Suche nach Gefahr und Zerstreuung, wie der Erzabenteurer, der er war. Der Graue Fuchs war schon immer der Beste von uns gewesen. Der Seneschall erinnerte mich mit einem weiteren gewichtigen Hüsteln an seine Gegenwart, und widerstrebend gestattete ich ihm, mich zurück
durchs Herrenhaus zu führen, um die Familienmatriarchin zu treffen.
Es stellte sich heraus, dass sie unten im Lageraum, der Kommandozentrale der Familie, war, wo sie wieder das Schicksal der Welt entschied; also mussten wir den größten Teil des Nordflügels durchwandern, um die massiv verstärkte Stahltür im rückwärtigen Teil dessen zu erreichen, was einmal der alte Ballsaal gewesen war. Es dauerte drei Passwörter, eine Netzhautabtastung und ein nicht völlig unkameradschaftliches Filzen, bevor dem Seneschall und mir erlaubt wurde, uns der Tür auch nur zu nähern, aber schließlich öffnete sie sich, und wir stiegen eine sehr elementare Treppe hinunter, die in die Steinmauer selbst gehauen war, kein Geländer hatte, aber dafür auf der anderen Seite einen offen gestanden beängstigend ungehinderten Blick in die Tiefe bot. Die elektrische Beleuchtung war von fast schmerzhafter Helligkeit, und zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen waren bereits getroffen, sodass leuchtende Kraftfelder und schimmernde, geheimnisvolle Schutzschirme sich vor uns öffneten, als sie unsere Torques wahrnahmen, und anschließend hinter uns wieder hermetisch schlossen. Die üblichen Wachgoblins waren auf ihren Posten und hockten in ihren Steinnischen: untersetzte und hässliche Geschöpfe mit Gesichtern wie Bulldoggen, die auf einer Wespe herumkauen. Sie waren nicht viel größer als ein Fußball, mit langen, spindeldürren Armen und Beinen, aber sie konnten ziemlich spektakulär bösartig werden, wenn sie aufgebracht waren. Ich habe mal gesehen, wie ein Goblin einen Werwolf zur Strecke brachte und ihn dann bei lebendigem Leibe fraß, und solche Sachen vergisst man so schnell nicht wieder.