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Die Familienmatriarchin, Martha Drood. Groß, elegant und königlicher als jede Königin. Sie war inzwischen in den Mitsechzigern und kleidete sich wie eine Landadelige, lauter aufeinander abgestimmte Tweedsachen, Perlen und unauffälliges Make-up. Ihr langes graues Haar thronte zu einer Skulptur aufgeschichtet auf ihrem Kopf. Zu ihrer Zeit war sie schön gewesen, und ihr kräftiger Knochenbau sorgte dafür, dass sie auch jetzt noch bemerkenswert war. Wie bei der Eiskönigin aus dem Märchen, die einem einen Splitter ihres Eises ins Herz treibt, wenn man noch jung und hilflos ist, so hat man keine andere Wahl, als sie für immer zu lieben. Sie bot mir keine Hand zum Schütteln an, und ich bot nicht an, sie auf die Wange zu küssen. Ausgleich in puncto Ehrerbietungen. Ich nickte ihr zu.

»Hallo, Großmutter.«

Die Familie wird von jeher von einer Matriarchin geführt; es ist ein Überbleibsel unseres druidischen Erbes. Martha stammt von einer langen Reihe von Kriegerköniginnen ab, und das sieht man. Ihr Wort ist Gesetz. Als ich ein Kind war, legte ich im Unterrichtsfach Familiengeschichte dem Lehrer dar, dass, wenn sie unsere Königin war, wir Übrigen nur ihre Drohnen waren. Dafür wurde ich viel angeschrien. Rein formal hat die Matriarchin uneingeschränkte Macht über die Familie; in der Praxis steht ihr ein Rat, der sich aus zwölf der herausragendsten Familienmitglieder zusammensetzt, sehr eng zur Seite. Man muss schon etwas wirklich ganz Bemerkenswertes für die Familie vollbringen, um auch nur in die engere Wahl zu kommen. Matriarchinnen, die nicht auf ihren Rat hören oder hören wollen, haben nicht die Tendenz, es lange zu machen. In extremen Fällen hat man schon Unfälle erlebt, und eine neue Matriarchin übernahm das Ruder. Die Familie kann außerordentlich skrupellos sein, wenn es sein muss.

Marthas zweiter Mann, Alistair, stand schüchtern neben ihr, wie immer, bereit für was auch immer sie von ihm verlangen mochte. Er war groß und kräftig und kleidete sich wie ein vornehmer Bauer; die Sorte, die sich ihre teuren Stiefel niemals schmutzig macht. Er war zehn Jahre jünger als Martha und hinlänglich gut aussehend, nehme ich an, auf eine irgendwie schwache und unfertige Art; wie der Investitionsmakler, der einem versichert, dass das Geschäft, das er vorschlägt, einen absolut garantiert reich machen wird. Ich nickte ihm kurz zu.

»Hallo, Alistair.«

Er war Prinzgemahl durch lange Tradition, aber der Teufel sollte mich holen, wenn ich ihn Großvater nannte. Mein richtiger Großvater, Marthas erster Mann, Arthur, starb im Kampf in der Kiew-Verschwörung von 1957. Ich habe ihn nie kennengelernt.

Alistair und ich sind nie miteinander ausgekommen. Offiziell war seine Funktion innerhalb der Familie die des persönlichen Beraters der Matriarchin, aber das war nur etwas, um ihn zu beschäftigen, damit er nicht merkte, dass er nur ein besserer Laufbursche war. In seinem ganzen Leben hatte er nie einen Außeneinsatz gehabt, zu seiner Erleichterung ebenso wie zu der aller anderen. Vor seiner Hochzeit mit Martha war er etwas in der Londoner Geschäftswelt, aber nur dank einer Erbschaft. Es hieß, die Londoner Geschäftswelt war froh, ihn los zu sein. Die ganze Familie wusste, dass er nutzlos war, aber Großmutter liebte ihn, daher sagte aus Achtung vor ihr nie jemand etwas. Wohingegen man geflissentlich dafür sorgte, dass Alistair nie in die Nähe von etwas Wichtigem gelassen wurde. Oder von etwas Zerbrechlichem. In jeder Familie gibt es einen wie Alistair.

Martha musterte mich kalt. »Es ist eine ziemliche Weile her, seit du uns mit deiner Gegenwart beehrt hast, Edwin.«

Ich zuckte die Achsel. »Ich bin gern beschäftigt. Und es ist ja auch nicht so, als ob es hier irgendetwas gäbe, was mir fehlen würde.«

»Nach all dieser Zeit gibst du immer noch der Familie die Schuld am Tod deiner Mutter und deines Vaters«, sagte Martha. »Du solltest stolz auf ihr Opfer sein.«

»Bin ich«, erwiderte ich. »Aber mich wird niemand jemals in den Tod bei einer Operation schicken, die nicht ordentlich geplant war. Ich leite meine Missionen selbst.«

»Du dienst der Familie«, sagte Alistair, indem er sich an Marthas frostigem Ton versuchte, ohne ihn jedoch zustande zu bringen.

»Ich diene der Familie«, sagte ich. »Auf meine eigene Weise.«

»Die Personen, die für die unzulängliche Planung dieser Mission verantwortlich waren, wurden schon vor langer Zeit bestraft«, sagte Martha. »Du musst es dabei bewenden lassen, Edwin. Sie war auch meine Tochter.« Sie unternahm eine bewusste Anstrengung, das Thema zu wechseln. »Was hast du da überhaupt an, Edwin? Ist das wirklich das Beste, was dir bei deinem ersten Besuch im Herrenhaus seit zehn Jahren möglich war?«

»Tut mir leid«, sagte ich. »Aber vor Kurzem hat man bei mir eine Modeintoleranz diagnostiziert. Ich kann nichts Gutes tragen, sonst kriege ich Stil.«

Sie blickte mich an. »Du weißt, dass ich Humor nicht komisch finde, Edwin. Und steh gerade! Willst du Hängeschultern bekommen? Und wann wirst du endlich heiraten und der Familie Kinder schenken? Wie alle anderen hast du die Pflicht, die Familie mit frischem Blut zu versorgen, um uns stark und vital zu erhalten. Wir haben dir mehrere Listen mit völlig respektablen Kandidatinnen aus geeigneten Familien vorgelegt. Jede davon wäre eine gute Partie für sich. Du bist allmählich ein bisschen zu alt, um so wählerisch zu sein.«

»Das ist noch etwas, was ich selbst entscheide«, erklärte ich mit Bestimmtheit.

»Was war denn mit der guten Stephanie Mainwearing nicht in Ordnung?«, wollte Martha wissen. »Ein entzückendes Geschöpf, dachte ich.«

»Ach, komm schon, Großmutter! Ein kleines bisschen mehr Inzucht, und sie wäre ihre eigene Schwester gewesen!«

»Alice Little?«

»Lebt in ihrer eigenen Welt und kommt nur zu den Mahlzeiten raus. Vielen Mahlzeiten.«

»Penelope Creighton?«

»Du machst wohl Witze! Sie hat mit mehr Frauen geschlafen als ich! Betreibt ihr Leute eigentlich nicht mal mehr Grundlagenforschung?«

»Nun, hast du wenigstens im Moment jemand im Auge, Edwin?«

Ich zog in Erwägung, ihr von Silikon Lily zu erzählen, war aber über die Versuchung erhaben. »Niemand Besonderes, Großmutter«, sagte ich.

»Ich hoffe, du bist … vorsichtig, Edwin«, sagte Alistair mit einer noch versnobteren Stimme als sonst. »Du weißt, welche Ansichten die Familie über uneheliche Kinder hat.«

Ich schaute ihn einen Moment lang an, dann sagte ich: »Ich bin immer vorsichtig, Alistair.«

»Letzten Endes«, sagte Alistair, »egal wem du dich schließlich zuwendest, sie muss für die Familie akzeptabel sein.«

»So wie du, Alistair?«, fragte ich.

Erneut beschloss Martha, das Thema zu wechseln. »Du bist ins Herrenhaus zurückgerufen worden, Edwin, weil ich einen sehr wichtigen und sehr dringenden Auftrag für dich habe.«

»Etwas in der Art hatte ich mir schon zusammengereimt«, meinte ich. »Dürfte ich mal fragen, was so wichtig sein könnte, dass ich den ganzen Weg hierhergeschleift werden musste, nur um es zu besprechen? Was ist los mit den üblichen Kanälen?«

»Es ist eine Frage der Sicherheit«, erklärte Martha. »Und du musst es sein, weil alle anderen beschäftigt sind - beschäftigter denn je. Du siehst ja die Anzeigen: Die ganze Familie ist gefordert bis an ihre Grenzen. Und du hast gesehen, was gerade im Sanktum passiert ist. Einst wäre ein solcher Angriff undenkbar gewesen, doch nun ist die ganze Familie bedroht. All unsere größten Bemühungen müssen gegenwärtig der Verteidigung der Familie und der Identifikation der Aggressoren gelten. Der Auftrag, den ich jetzt für dich habe, Edwin, ist deine Chance, endlich deinen Wert zu beweisen und in den Schoß der Familie zurückzukehren. Führe diese Mission erfolgreich durch, und du hast dir einen Sitz im Rat verdient.« Sie hielt inne und überlegte sich ihre Worte sorgfältig. »Einige von uns sind zu der Überzeugung gelangt, dass es einen Verräter geben muss, vielleicht im innersten Kern der Familie. Ich bin nicht mehr sicher, wem ich vertrauen kann. Selbst mein eigener Rat ist in letzter Zeit … uneins und streitsüchtig. Als Außenseiter siehst du vielleicht Dinge, die uns Übrigen verborgen bleiben. Beweise dich mit dieser Mission, Edwin! Ich wüsste deine Stimme in meinem Rat zu schätzen.«