Ich rüstete ab und keuchte, als die rauchgeschwängerte Luft auf mein bloßes Gesicht traf. Ich sah mir meinen linken Arm an, der schlaff an meiner Seite herabhing. Blut durchtränkte die gesamte Länge des Ärmels und tropfte von meinen tauben Fingerspitzen. Ich untersuchte den Pfeilschaft, der aus dem Fleisch meiner Schulter ragte. Das Metall war ein glänzendes Silber, das sogar im hellen Sonnenlicht schimmerte und strahlte. Es gab keine Federn; ein Pfeil wie der hier brauchte keine, um genau zu fliegen. Ich musste es der Familie mitteilen: Das Elfenvolk hatte eine Waffe gefunden, die unsere Rüstung durchdringen konnte. Nur dass ich es ihnen nicht mitteilen konnte. In dem Moment, wo ich zu Hause anrief, wüsste die Matriarchin, dass ich noch am Leben war, und würde noch mehr Leute schicken, um mich umzubringen. Ich betrachtete den Schaft noch einmal. Fremde Materie, aus irgendeiner anderen Dimension. Wahrscheinlich giftig. Musste raus. Oh Scheiße, das würde wehtun!
Ich zog ein Taschentuch aus meiner Tasche, rollte es zu einem Ballen zusammen und biss fest darauf. Dann packte ich den Schaft mit aller Kraft und drückte ihn tiefer in meinen Körper, bis der mit Widerhaken versehene Kopf an meinem Rücken austrat. Das Taschentuch dämpfte meinen Schrei, aber der Schmerz raubte mir fast die Besinnung. Ich griff nach oben und um meine Schulter herum und zog den Schaft unbeholfen ganz durch und heraus. Bis ich fertig war, lief mir das Blut in Strömen über Brust und Rücken, mein Gesicht war schweißgebadet und meine Hände zitterten. Es war lange her, dass ich so schlimm verwundet worden war. Ich spuckte das Taschentuch aus und nahm den Pfeil in beide Hände. Er schien sich in meinem Griff zu winden. Ich brach ihn entzwei, und er schrie in meinem Kopf. Ich ließ die Bruchstücke auf den Boden fallen, und sie versuchten, sich in etwas anderes zu verwandeln, bevor sie zu einer klebrigen Schmiere von etwas zerfielen, das in dieser Welt nicht überleben konnte.
Ich setzte mich in den Fahrersitz, bevor die Beine unter mir nachgaben. Nach einer Weile holte ich den Verbandskasten heraus, machte ihn auf und entnahm ihm einen simplen Heiler: nichts weiter als ein Klecks vorprogrammierter einfacher Substanz, voll mit allen Arten von Zeug, das gut für mich war. Ich sprach das aktivierende Wort und klatschte ihn auf die Wunde in meiner Schulter. Augenblicklich versiegelte der Klecks sie und pumpte irgendeine wunderbare Droge in mich, die den Schmerz ausschaltete, als ob ein Schalter umgelegt worden wäre. Die plötzliche Erleichterung entlockte mir ein lautes Stöhnen. Der Klecks drang mit einem schlanken Tentakel in die Wunde ein, beseitigte unterwegs den Schaden und kam in meinem Rücken heraus, um sie auch dort zu versiegeln. All das konnte ich spüren, aber nur auf eine vage und verschwommene Weise. Ich war schon irgendwie interessiert; ich hatte vorher noch nie einen benutzen müssen. Aber im Moment hatte ich andere Sachen im Kopf.
Ich musste wissen, warum meine eigene Großmutter mich verraten hatte. Warum sie mich mit einer Lüge auf den Lippen in den Tod geschickt hatte. Ins Herrenhaus konnte ich nicht zurück, um Antworten zu erhalten. Selbst wenn ich an allen Verteidigungsanlagen vorbeikäme, würde sie mich einfach einen Lügner nennen, mich zum Abtrünnigen und Vogelfreien erklären und der Familie befehlen, mich zu töten. Und alle würden ihr glauben und keiner würde mir glauben, denn sie war die Matriarchin, und ich war … Eddie Drood. Mit wem konnte ich überhaupt noch reden, wem konnte ich noch trauen, nach allem, was geschehen war? Vielleicht nur noch einem Mann. Ich holte mein Handy heraus und rief Onkel James unter seiner ganz privaten Nummer an. Kaum hatte er meine Stimme erkannt, brach er das Gespräch ab.
»Bleib wo du bist! Ich bin sofort bei dir!«
Und einfach so stand er vor mir, das Handy noch in der Hand. Die Luft kräuselte sich um ihn herum, verdrängt vom Teleportationszauber. Wir steckten unsere Telefone weg und blickten einander an. Besorgnis erfüllte sein Gesicht, als er meines Zustands und des Bluts, das immer noch meinen linken Arm überzog, gewahr wurde. Er machte Miene, auf mich zuzugehen, aber ich hielt ihn mit einer erhobenen Hand davon ab. Er nickte langsam.
»Ich weiß, Eddie. Es ist immer hart zu lernen, dass man niemandem trauen kann. Du siehst übrigens scheiße aus.«
»Du solltest die andern Typen sehen, Onkel James.«
Er sah an mir vorbei, auf das Gemetzel und die Verwüstung, die ich auf der Autobahn hinterlassen hatte, so weit das Auge reichte, und tatsächlich stahl sich ein kleines Lächeln auf sein Gesicht.
»Du hast das alles angerichtet? Ich bin beeindruckt, Eddie! Wirklich!«
»Wie bist du so schnell hierhergekommen, Onkel James?«, fragte ich langsam. »Teleportationszauber benötigen exakte Koordinaten. Woher wusstest du, wo genau auf diesem langen Autobahnstück du mich finden würdest, wenn nicht einmal ich selbst völlig sicher bin, wo genau ich bin? Was geht hier vor, Onkel James?«
»Das Zielsuchgerät verriet uns, wo du warst, bevor du es zerstört hast.« Onkel James redete in einem gelassenen Plauderton. »Die Matriarchin hat mich hergeschickt, Eddie. Sie hat mir spezifische Befehle erteilt … hat gesagt, falls du irgendwie sämtliche Hinterhalte überlebt haben solltest, sollte ich dich persönlich töten. Kein Wort, keine Warnung; dich nur kaltblütig abknallen. Warum sollte sie mir auftragen, so etwas zu tun, Eddie? Was hast du ausgefressen?«
»Ich weiß es nicht! Ich habe nichts gemacht! Nichts hiervon ergibt irgendeinen Sinn, Onkel James …«
»Du bist offiziell für vogelfrei erklärt worden«, fuhr er fort. »Eine klare und gegenwärtige Gefahr für die ganze Familie. Jeder Drood ist berechtigt, dich ohne Warnung zu töten. Zum Wohl der Familie.«
Wir standen da und blickten einander an. Keiner von uns trug seine Rüstung. Keiner von uns hatte eine Waffe. Sein Gesicht war nüchtern, sogar gelassen, doch in seinen Augen konnte ich eine Qual sehen, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben wusste James Drood nicht, was das Beste zu tun war. Er war hin- und hergerissen zwischen dem, was ihm befohlen worden war, und dem, was in seinem Herzen war. Sie dürfen nicht vergessen, dies war der Graue Fuchs, der loyalste und verlässlichste Agent, den die Familie je gehabt hatte. Onkel James. Der wie ein Vater zu mir gewesen war. Der mich am Ende nicht töten würde, nicht töten konnte.
Wir beide spürten das im selben Moment, und wir beide entspannten uns ein wenig.
»So«, sagte ich. »Was machen wir jetzt?«
»Ich gehe zurück zur Matriarchin. Erzähle ihr, dass du schon weg warst, als ich ankam«, sagte Onkel James mit ausdrucksloser Stimme. »Du … du rennst weg. Rennst und hörst nicht auf zu rennen. Versteck dich so gründlich, dass nicht einmal ich dich finden kann. Denn wenn wir uns wieder begegnen, werde ich dich töten, Eddie. Ich muss. Zum Wohl der Familie.«
Kapitel Acht
Die Verführung der nicht gänzlich Unschuldigen
Ohne ein Wort des Abschieds verschwand Onkel James, und die Luft strömte herbei, um den Platz auszufüllen, wo er gewesen war. Ich hätte ihm von dem Elbenpfeil erzählen sollen, der meine Rüstung durchdrungen hatte, aber er hatte mir keine Chance gegeben, und sowieso stand ich noch immer unter Schock. Meine Familie wollte meinen Tod! Nach allem, was ich für sie getan hatte, nach zehn langen Jahren, in denen ich in ihrem Namen den guten Kampf gekämpft hatte, war das mein Lohn: zum Vogelfreien erklärt zu werden! Zum Verräter. Zum Ausgestoßenen. Ich mochte nicht immer einer Meinung mit ihnen gewesen sein, aber sie waren dennoch meine Familie. Ich hätte sie niemals verraten. Von zu Hause fortzulaufen ist eine Sache; eine ganz andere hingegen gesagt zu bekommen, dass man nicht zurückkann, weil man sonst auf der Stelle getötet wird. Ich betrachtete das mit Blei ausgeschlagene Behältnis, in dem die Seele Albions hätte sein sollen, starrte in sein leeres rotes Plüschinneres, als ob es ein paar Antworten für mich hätte. Hatte es nicht, also warf ich es weg.