Ich bin paranoid, ich denke voraus, und ich bin sehr gründlich.
Ich verließ die Garage, schloss das Tor hinter mir ab, und tatsächlich, das Taxi ohne Namen wartete schon auf mich. Ich ging zu ihm hin und stieg ein, ohne auch nur einmal zurückzublicken. Das ist ein wichtiger Bestandteil der Arbeit eines Agenten im Außendienst: in der Lage zu sein, jeden Augenblick von
allem und jedem wegzugehen und nie zurückzublicken.
Das Taxi brachte mich zurück ins eigentliche London und setzte mich an der ersten U-Bahn-Station ab, an die wir kamen. Ich fuhr mit den Zügen hin und her und wechselte wahllos von einer Linie zur anderen, bis ich sicher war, dass mir niemand folgte. Es war ausgeschlossen, dass meine Familie - oder sonst jemand - mich so schnell aufgespürt haben konnte, aber ich musste Gewissheit haben. In der Oxford Street stieg ich aus und ging nach oben und hinaus an die frische Luft. Es war mittlerweile früher Abend, und Menschenmengen wogten durch die Straße und gingen ihren alltäglichen Beschäftigungen nach wie an jedem anderen Tag auch. Zumindest das war normal und beruhigend.
Der erste Name auf meiner Liste waren die Liebenden Chelseas. Sehr heimlichtuerisch und sehr schwer zu finden. Sie wechselten ihre Geschäftsräume alle vierundzwanzig Stunden, und das mit gutem Grund. Die Liebenden Chelseas waren gehasst und gefürchtet, wurden angebetet und verehrt, bestürmt und verachtet. Und die einzige Möglichkeit, sie zu finden, war die Karten zu lesen. Also ging ich lässig die Oxford Street entlang, bis ich zu den Reihen der öffentlichen Telefonzellen kam, und überprüfte dort das Angebot an Nuttenkarten, mit denen die Zellen innen bepflastert waren. Nuttenkarten sind Geschäftskarten, die von Prostituierten in den Telefonzellen zurückgelassen werden und auf denen sie ihre Dienste anpreisen. Manchmal tragen sie ein Foto (bei dem man sicher sein kann, dass es wenig oder gar keine Ähnlichkeit mit der wirklichen Frau hat), häufiger ein anzügliches Kunstwerk, das von einer kurzen, kessen Mitteilung und einer Telefonnummer begleitet wird.
Die Karten haben eine lange Geschichte, die bis in viktorianische Zeiten zurückreicht, und über die Jahre ihre ganz eigene Sprache entwickelt. Ein Mädchen, dass sich beispielsweise mit exzellenten Kenntnissen des Griechischen brüstet, wird nicht wirklich akademische Qualifikationen besitzen; allerdings wäre ein Besuch bei ihr an sich betrachtet fast sicher ein Bildungsgang. Doch unter all den Euphemismen und Zweideutigkeiten existiert noch eine andere, geheimere Sprache, für die, die sie lesen können. Eine ganz andere Botschaft, die in der Anordnung verschiedener Buchstaben und Wörter zu finden ist und dem Eingeweihten verrät, wie er die augenblicklichen Stätten für dunklere und gefährlichere Freuden finden kann. Ich arbeitete die Mitteilung dieses Tages heraus und wählte die angezeigte Nummer, und eine Stimme am anderen Ende, die männlich oder weiblich sein mochte, beides oder keins von beiden, gab mir eine Adresse kurz hinter Covent Garden und sagte mir, ich solle nach dem Kit Kat Club fragen. Schön zu wissen, dass es noch Leute mit Sinn für Humor gab.
Das Lokal war nicht schwer zu finden. Von außen sah es nur wie ein Gebäude unter vielen aus, hinter einer langweiligen, anonymen Fassade. Keine Reklame, keine Hinweise. Entweder man wusste genau, dass dies der Ort war, oder man hatte hier nichts verloren. Während Leute nichts ahnend an mir vorbeigingen, betrachtete ich das Äußere nachdenklich. Der Kit Kat Club war nicht die Art von Lokal, in die man einfach hineinstürzte. Vorher musste man sich seine geistigen Lenden gürten.
Die Liebenden Chelseas waren eine Gruppenehe allerlei geheimnisvoller Spinner, die sich den dunkleren Bereichen der tantrischen Sexzauberei verschrieben hatten, kanalisiert durch innovative Computertechnologie. Sie organisierten Orgien, die rund um die Uhr dauerten und unter deren Teilnehmern ein ständiges Kommen und Gehen herrschte. Mit der Art von mystischer Energie, die zu erzeugen sie in der Lage waren, hätten sie das ganze London hochheben und ein paarmal herumwirbeln können, bevor sie es wieder fallen ließen. Nur machten sie das nie, weil … na ja, offenbar weil sie mit etwas weitaus Wichtigerem beschäftigt waren. Was das sein mochte, wusste niemand so genau, und die meisten hatten Angst zu fragen. Die Liebenden Chelseas hatten Verbindungen zu jedem Nekrotech-, Psychofetisch- und Ritualsexclub in der Stadt und waren berühmt dafür, Dinge zu wissen, die sonst niemand wusste oder wissen wollte. Sie finanzierten sich, indem sie wichtige Leute - Prominente, Politiker und dergleichen - in die Falle lockten und dann erpressten.
Weshalb die Liebenden Chelseas allen Grund hatten, Edwin Droods Tod zu wollen. Vor einem Jahr oder so hatte die Familie mich hineingeschickt, um die Zentralcomputer der Liebenden Chelseas und sämtliche Dateien zu zerstören, nachdem sie den Fehler gemacht hatten, jemanden unter Druck setzen zu wollen, der dem Schutz der Familie unterstand. Also hatte ich hochgerüstet, mir gewaltsam Zutritt verschafft und ihre Rechner mit einer maßgeschneiderten Logikbombe ausgeschaltet, die ich aus einer der Spezialpistolen des Waffenschmieds abschoss. Die Computer machten so schnell schlapp, dass von ihnen nichts als eine Siliziumpfütze auf dem Boden übrig blieb.
Mein wahres Gesicht bekamen sie nie zu sehen, nur die goldene Maske. Also hatten sie keinen Grund, Shaman Bond zu verdächtigen. Außer natürlich, dass die Liebenden Chelseas jeden in Verdacht hatten, und das auch völlig zu Recht. Sie ärgerten die Leute.
Ich ging zu der völlig gewöhnlichen Vordertür hin und klopfte höflich. Ein verborgenes Schiebefach öffnete sich und ein finsteres Augenpaar musterte mich schweigend. Ich gab ihm das Passwort, das ich aus der Telefonzelle hatte, und das genügte, um Einlass zu erhalten. Das Schiebefach wurde zugeknallt und die Tür öffnete sich gerade weit genug, um mich hereinzulassen. Ich musste mich zur Seite drehen, um mich durchzuzwängen, und hinter mir wurde die Tür sofort wieder verschlossen.
Der Wachmann beugte sich über mich. Er war groß wie ein Schrank und hatte Muskeln auf den Muskeln. Das konnte ich erkennen, weil er völlig nackt war, abgesehen von so viel Stahlpiercings an schmerzhaften Stellen, dass es bei einem Gewitter gefährlich gewesen wäre, sich in seiner Nähe aufzuhalten. Er wollte, dass auch ich meine Kleider aus- (Hausordnung) oder mich wenigstens einem gründlichen Filzen unterzog. Ich bedachte ihn mit meinem besten strengen Blick, und er beschloss, die Angelegenheit nach oben weiterzureichen. Ich sagte ihm, dass ich hier sei, um das Gründungsquartett zu sprechen, und er zog eine gepiercte Augenbraue hoch. Ich gab ihm ihre richtigen Namen, was ihn beeindruckte, und nach einem Moment bedächtigen Nickens schleppte er sich von dannen, um sie zu suchen.
Ich blieb an der Tür stehen und rührte mich nicht vom Fleck. Ich war mir nicht ganz sicher gewesen, was ich erwarten sollte. Ich meine, ich bin herumgekommen, das bringt die Arbeit mit sich, aber die Liebenden Chelseas waren ein völlig neues Gebiet der Verderbtheit für mich. Das ganze Gebäude war dergestalt ausgehöhlt worden, dass es einen großen, offenen und kavernenartigen Raum bildete. Beleuchtet wurde der Kit Kat Club von rotierenden bunten Lichtern, die der Szenerie eine kaleidoskopartige Atmosphäre verliehen, die an einen Drogenrausch erinnerte. Sehr passend für eine Gruppe, deren Ursprünge in den Sechzigern lagen. So ziemlich überall, wo ich hinschaute, waren nackte Leute oder Leute, die in der Art von dramatischem Fetischaufzug steckten, die einen noch nackter als nackt aussehen lässt. Leder und Gummi, Plastik und flüssiger Latex, Halsbänder und Ketten, Stacheln und Masken und alle Arten von Freiheitsbeschränkungen, über die man lieber nicht nachdenken möchte. Mauerblümchen gab es hier keine; jeder hatte mit jemand oder etwas zu tun. Sie bewegten sich gewandt gemeinsam, überall in dem ganzen riesigen Raum, Fleisch, das sich hob und senkte, Haut, die über schweißnasse Haut rutschte. Es gab keine Worte, nur Stöhnen und Seufzen und die Laute einer Sprache, die älter ist als die Zivilisation. Die Gesichter, die ich sehen konnte, hatten einen mit sich selbst beschäftigten, animalischen Ausdruck, die Augen aufgerissen, die Zähne gebleckt.