Ich zog die Tür weit auf, und Tageslicht strömte herein. Noch mehr Schreie, der Wut ebenso wie der Angst. Ich schaute zurück: Der ganze Raum lag jetzt in spasmischen Zuckungen, und in den austrocknenden Wänden taten sich große Risse auf. Leute stürzten aus der Luft, als die Zauber zerfielen, nicht länger getragen von der endlosen Orgie. Männer und Frauen schrien und heulten und schlugen aufeinander ein. Ich hatte die Stimmung ruiniert. Ich nickte befriedigt. Ich mochte hier vielleicht nichts Brauchbares erfahren haben, aber wenigstens würde sich die Nachricht verbreiten: dass, auch wenn ich nicht länger die Unterstützung meiner Familie hatte, ich noch immer eine Macht war, mit der man rechnen musste.
Kapitel Neun
Träume sind Schäume
Ich begab mich zurück in die U-Bahn und nahm den Zug zum Bahnhof Leicester Square. Im Wagen wollte niemand neben mir sitzen; es standen sogar Leute auf, um sich von mir weg zu setzen. Es dauerte eine Weile, bis mir klar wurde, dass ich immer noch nach Moschus aus dem Kit Kat Club stank. Dennoch lächelten mehrere Frauen mir zu. Und ein paar Männer. Schließlich tauchte ich wieder aus der Bahnstation auf und schlenderte die St. Martin's Lane entlang. Mittlerweile rückte der Abend heran, und die Leute hauten in fröhlich schnatternden Gruppen auf den Putz. Niemand schenkte mir die geringste Beachtung, daraus schloss ich, dass sich der Moschus an der freien Luft verlor. Es war ein gutes Gefühl, wieder sicher anonym zu sein.
Die Gegend um die St. Martin's Lane ist recht nett; lauter Theater und Restaurants, freundliche Kaufhäuser und Geschäfte. Alles sehr kultiviert eigentlich. Ich folgte der Straße, die eine Kurve beschrieb, bis ich zur nächsten Adresse auf meiner Liste kam: dem sehr geheimen Zuhause und Versteck der Kulissenschieber. Wahrscheinlich die gefährlichste Gruppierung auf der Bildfläche, auf ihre eigene unbedeutende Art. Und so heikel im Umgang, dass es mir nie erlaubt gewesen war, direkten Kontakt zu ihnen zu haben, obwohl sie definitiv zu meinem Revier gehörten. Die Kulissenschieber unterlagen der alleinigen Verantwortlichkeit einer speziellen Gruppe innerhalb der Familie, und mich hatte man sehr bestimmt angewiesen, die gebührende Distanz zu wahren.
Aber - die Dinge ändern sich.
Im Wesentlichen arbeiten die Kulissenschieber hinter den Kulissen der Realität, wo sie hier und da kleine Details manipulieren, um den Zustand der Welt zu ihrem Vorteil zu verändern. Es gibt Mitglieder der Drood-Familie, deren ausschließliche Aufgabe darin besteht, diese Manipulationen zu entdecken und den ursprünglichen Zustand wiederherzustellen. Wir gehen davon aus, dass wir am Gewinnen sind, einfach aus dem Grund, weil die Kulissenschieber die Welt noch nicht tatsächlich beherrschen. Soweit wir es sagen können …
Von außen sah die Anschrift wie ein ganz normales Gebäude aus, Teil einer ziemlich modernen Häuserreihe mit hellem weißem Stein und übergroßen Fenstern, aber da war etwas an dem Haus … etwas, wobei sich einem die Nackenhaare stellten und was einen abgeneigt machte zu verweilen. Passanten beschleunigten ihre Schritte und wandten die Augen ab, ohne es auch nur zu merken. Ich stand vor dem Haupteingang und betrachtete ihn finster und nachdenklich. Ein Frontagent lernt, sich auf seine Instinkte zu verlassen, und jeder Instinkt, den ich besaß, schrie mir zu, mich in Windeseile von diesem furchtbaren Ort fortzumachen. Allein dort zu stehen rief in mir ein Gefühl der … Beunruhigung, der Beklommenheit, der Gefahr für Leib und Seele hervor. Als ob ich, ginge ich hinein, Dinge sehen mochte, die zu sehen ich nicht ertragen konnte, oder Dinge erfahren, die ich nicht wissen wollte. Selbst mit dem Torques um meinen Hals, der mich vor äußeren Einflüssen abschirmte, bedurfte es noch all meiner Willenskraft, um nicht zu weichen.
Während ich das Gebäude aufmerksam betrachtete und mich weigerte wegzuschauen, begannen die Einzelheiten sich zu verschieben und zu fließen, wie ein schmelzendes Gemälde. Als ob ein Deckanstrich fortgespült würde, sodass das wahre Bild darunter zum Vorschein kam. Genau wie es in den Familienberichten hieß, wurde das Hauptquartier der Kulissenschieber von einem Unsicherheitszauber beschützt: Man musste sich sicher sein, dass das, wonach man suchte, da war, oder aber es wäre es nicht. Letztendlich war alles eine Frage der geistigen Disziplin. Die jetzt bei mir zu entdecken für gewisse Familienmitglieder, die in Klassenzimmern getönt hatten, ich hätte keine, ein Schock gewesen wäre.
Während ich mit vor Konzentration grimmiger Miene zusah, löste sich das Bürogebäude vor mir einfach auf wie ein flüchtiger Gedanke und gab meinen Blicken das wahre Bauwerk darunter preis: eine alte Kirche mit wuchtiger Holz- und Gipsfassade, überwölbtem Eingang und mittelalterlichen Farbglasfenstern. Sie war halb so groß wie die modernen Gebäude, die zu beiden Seiten von ihr aufragten, aber es lag eine grundlegende Stärke und Festigkeit in diesem Ort, die irgendwie beruhigend war. Meine Instinkte kribbelten immer noch, aber immerhin verspürte ich nicht mehr den Drang wegzurennen. Ich schritt zur Vordertür und klopfte an, als ob ich einen Grund hätte, da zu sein.
Wenn man mit Leuten zu tun hat, die Tag für Tag die Realität verändern, macht es nicht viel Sinn zu versuchen, sich hineinzuschleichen. Sie hatten wahrscheinlich vor mir gewusst, dass ich unterwegs war, um sie aufzusuchen. Und mit Sicherheit hatte ich nicht vor, mich aufzuspielen; es gab sehr klare Grenzen für den Schutz, den man von meiner Rüstung erwarten durfte. Ich beabsichtigte, wenn die Tür sich öffnete, außerordentlich höflich zu sein und die ganze mir zu Gebote stehende Vernunft walten zu lassen. Ich beabsichtigte auch, viel zu lächeln und wie ein Irrer loszurennen, falls meine Kleider anfangen sollten, sich zu verfärben.
Die Tür öffnete sich und ließ eine gut gelaunt dreinschauende Person sehen, einen beruhigend gewöhnlichen Typen in einem schmutzigen Arbeitskittel. Er war ungefähr in meinem Alter, ein bisschen schmuddelig, hatte ein angenehmes Gesicht und im Mundwinkel eine Zigarette, die er nicht extra rausnahm, als er sprach. Er nickte mir unbeschwert zu.
»Hallo, mein Herr. Auf der Suche nach den Kulissenschiebern, nicht wahr? Dachte ich mir schon. Ich bin Bert. Ich mache die ganze wirkliche Arbeit hier, während die anderen alle ausgeflogen sind, um die Welt zu retten. Jemand muss den Zustand der Rohrleitungen überprüfen und die Pfützen aufwischen! Hätten Sie Lust auf eine Tasse Tee? Ich hab den Kessel aufgestellt … Naja, machen Sie, was Sie wollen! Aber sagen Sie nicht, ich hätte Ihnen keinen angeboten! Nur herein, nur herein! … Dann sind Sie also der neue vogelfreie Drood, richtig? Edwin Drood? Sehr erfreut! Irgendwie hab ich Sie mir größer vorgestellt, sozusagen … Macht nichts! Sie sind hier auf der Suche nach Schutz, stimmt's?«
»Neuigkeiten machen schnell die Runde«, sagte ich trocken, sobald ich zu Wort kommen konnte. Ich betrat die Kirche, und er schloss die Tür hinter mir. Ich lauschte angestrengt, hörte aber nicht, dass er sie absperrte. Das Kircheninnere war typisch altmodisch religiös, ein bisschen düster, aber durch die Farbglasfenster strömte lebhaft gefärbtes Licht herein. Es gab jedoch weder Kirchengestühl noch einen Altar, und die einzigen religiösen Symbole waren jene, die schon von Anfang an in die alten Steinmauern gemeißelt gewesen waren. Es mochte eine Kirche sein, aber seine Andacht hatte hier offenbar schon seit einiger Zeit niemand mehr verrichtet.
»Oh, wir wissen immer, was vor sich geht!«, erklärte Bert aufgeräumt. »Wir erfahren alles in dem Moment, wo es passiert, und manchmal auch mehrere Monate vorher. Ich habe immer gesagt, mit einem guten Klatschmagazin (für den anspruchsvollen Kundenkreis, nichts Ordinäres) könnten wir uns eine goldene Nase verdienen, aber ich kann es nicht mal auf die Tagesordnung des Ausschusses bringen. Diese Herrschaften schweben in höheren Sphären! Sie sind gekommen, um bei uns anzufangen, Edwin, nicht wahr? Das sollten Sie auch; wir machen hier wichtige Arbeit, wenn wir nicht gerade endlose Diskussionen darüber führen, was einen Schlüsselmoment in der Geschichte ausmacht und in welche Richtung wir das Zünglein an der Wage ausschlagen lassen sollten. Ich frage Sie, wer glaubt denn wirklich, dass der Zweite Weltkrieg hätte abgewendet werden können, wenn man Hitler seinen fehlenden Hoden zurückgegeben hätte? Aber ich sag Ihnen was, mein Herr: Sie kommen mit mir mit und ich zeige Ihnen das Wichtigste, während wir darauf warten, dass die anderen auftauchen. Wie wäre das?«