Ich war noch im Versuch begriffen, darauf eine Antwort zu formulieren, als wir von der Ankunft eines Manns und einer Frau unterbrochen wurden, die durch eine Tür auf der anderen Seite die Kammer betraten. Beide umhüllte die allgegenwärtige lange rote Robe, und beide umgab eine eindeutige Aura der Autorität. Sie waren mittleren Alters, hatten lange, asketische Gesichter und ernste Mienen. Bert nickte ihnen bloß zu, auffällig unbeeindruckt.
»Danke, Bert«, sagte der Mann. »Ab hier übernehmen wir.« Er lächelte mich kühl an. »Ich bin Bruder Nathaniel, und dies ist Schwester Eliza. Willkommen bei den Kulissenschiebern, Edwin Drood!«
Ich nickte kühl zurück. Ich mochte seine Augen nicht und ihre auch nicht. Sie hatten beide diesen Blick, diese Gewissheit jenseits jedes Zweifels, übermenschlich fokussiert, gnadenlos in ihrer Logik. Die Augen von Fanatikern.
»Ich bin hier, weil ich nach einigen Antworten suche«, sagte ich.
»Tun wir das nicht alle?«, entgegnete Nathaniel. »Kommen Sie, fragen Sie uns irgendetwas; wir werden nichts vor Ihnen verheimlichen. Bert, in den Sekundäranlagen ist etwas übergelaufen. Falls es dir nichts ausmacht …«
»Schon gut, schon gut! Ich werde gehen und euer Durcheinander in Ordnung bringen, während ihr Edwin den altbewährten aufmunternden Vortrag haltet.« Er nickte mir ungezwungen zu. »Viel Spaß mit dem Roten König und seinen Träumen! Passen Sie auf, dass Sie anschließend keine Albträume haben!« Mit einem letzten großspurigen Zwinkern verließ er den Raum.
»Fabelhafter Bursche«, sagte Nathaniel. »Ein unschätzbares Mitglied unseres Personals, auch wenn ich ihm das nie sagen würde - er könnte sonst mehr Lohn wollen. Nun denn, Edwin; Schwester Eliza und ich leiten den Betrieb hier, im gleichen Maß wie jeder andere hier. Wir denken gerne von uns als einer Genossenschaft. Erwarten Sie nicht von der guten Eliza, etwas zu sagen: Sie hat keine Zunge mehr. Manchmal haben die kleinen Veränderungen, die wir vornehmen, die unerwartetsten Auswirkungen …«
»Bert hat etwas von Gründungsmitgliedern erwähnt«, sagte ich, nur um etwas zu sagen.
»Oh, ja, das sind wir. Wir waren sechs, ursprünglich, aber jetzt sind wir sieben. Noch eine Nebenwirkung …«
»Wie viele Leute haben die Kulissenschieber?«, fragte ich und versuchte damit, eine Frage zu stellen, die vielleicht eine geringe Chance auf eine klare Antwort haben mochte.
»Oh, mehr als Sie denken würden!«, sagte Nathaniel und lächelte kühl. »Gewiss weit mehr, als Ihre Familie denkt. Sie wären überrascht, Edwin. Unsere Reihen wachsen ständig, denn wir öffnen den Menschen die Augen und zeigen ihnen die schreckliche Wahrheit. Wir sind die wahre Heilsarmee; wir führen einen heiligen Krieg gegen den Teufel und all seine Werke. Bert hat Sie mit den Grundlagen vertraut gemacht, nehme ich an? Schön, schön … Ich finde, es ist an der Zeit, dass Sie das Zentrum unserer Operationen kennenlernen, unseren ganz persönlichen Roten König, Professor Redmond. Wir sind alle sehr stolz auf ihn. Hier entlang, bitte …«
»Aber da sind noch Fragen, die ich Ihnen stellen muss«, sagte ich. »Über meine Familie, und warum man mich für vogelfrei erklärt hat …«
»Ja, ja,«, sagte Nathaniel, »alles zu seiner Zeit. Sie können nicht wirklich würdigen, was wir hier machen, bevor Sie nicht den Roten König kennengelernt haben.«
Er und die stumme Schwester Eliza geleiteten mich höflich, aber bestimmt durch das Labyrinth der Chemikalienbottiche und sich windender Schläuche zu einer Tür im rückwärtigen Teil der Kammer und durch diese hindurch in einen langen Steingang, der sich von uns weg erstreckte und in die Erde hinabsenkte. Dicke pulsierende Rohre wurden von Krampen an den unbehauenen Steinmauern gehalten; eine Reihe nackter Glühbirnen an der Decke spendete Licht. Wir folgten den Rohren eine Zeit lang den Gang hinunter, bis ich das Gefühl dafür verlor, wie tief unter der Kirche und den Straßen Londons wir uns eigentlich befanden. Die Luft war kühl und feucht, und an den Mauern lief Wasser herab.
»Haben Sie hier unten kein Wachpersonal?«, fragte ich nach einer Weile, einfach um das Schweigen zu brechen.
Nathaniel zuckte unbeschwert mit den Schultern. »Der Unsicherheitseffekt hält das Gesindel fern, wohingegen die Heiligkeit der Kirche uns vor dem Teufel und seinen Jüngern verbirgt. Und der Rote König träumt, dass er sicher ist, also ist er es …«
»Wie funktioniert das alles?«, fragte ich ein klein wenig verzweifelt. »Dieses ganze … Kulissenschiebereiding?«
»Es ist wirklich ganz einfach«, antwortete Nathaniel in jener selbstgefälligen Art, die einem sagt, dass es überhaupt nicht einfach werden wird. »Während der Rote König schläft, träumt er. Unaufhörlich. Und solange er sich in diesem Zustand befindet, ist er in der Lage, hinter die Kulissen der Realität zu blicken, sozusagen. Wie die Dinge wirklich funktionieren und wie sie zusammengesetzt sind. Wir können seine Träume beeinflussen und ihn überreden, kleine Veränderungen vorzunehmen. Und die Veränderungen, die er dort vornimmt, wirken sich aus auf die Dinge hier, in der Realität. Wir geben uns nur mit kleinen Veränderungen ab, nie mit großen, ganz egal wie groß die Versuchung auch sein mag. Sie könnten von … Sie-Wissen-Wem bemerkt werden.
Ich frage mich oft, was genau der Professor wohl sieht in seinen Träumen. Wir können es nur vermuten. Und hie und da einen Vorschlag in sein Ohr flüstern; er befindet sich in einem sehr suggestiven Zustand. Allerdings muss man sich sehr genau überlegen, um was man bittet, und sehr spezifisch sein. Wussten Sie, dass es in Schottland einmal Pyramiden gab? O ja; sie waren sogar eine riesige Touristenattraktion! Aber der Rote König träumte sie fort, und nun sind sie verschwunden, und niemand erinnert sich mehr an sie außer uns. Ihrer Familie ist das entgangen, was, wie ich manchmal denke, eigentlich eine Schande ist … Trotzdem, genügend kleine Veränderungen summieren sich, wenn Ihre Familie sich nicht einmischt. Wir sind so froh, dass Sie sich uns anschließen wollen, Edwin!«
»Ich habe mich noch nicht entschieden«, sagte ich.
»Aber Sie werden es«, meinte Nathaniel. »Sie werden.«
Unvermittelt kicherte Schwester Eliza. Das Geräusch, das sie ohne Zunge machte, war unschön, beunruhigend; sogar Nathaniel fuhr ein wenig zusammen. Der Gang beschrieb plötzlich eine Biegung und entließ uns in ein kleines Steingelass, kaum vier Meter im Durchmesser, gerade so düster erleuchtet, dass es noch angenehm für die Augen war. Die Wände waren annähernd so bemalt, dass sie dem Nachthimmel ähnelten, mit Sternbildern und einer Prozession des Mondes in all seinen Phasen. In der Mitte des Raums stand ein Marmorsockel und auf diesem, von einem reich verzierten Gitterwerk aus Kupferdraht an Ort und Stelle gehalten, ein abgetrennter menschlicher Kopf. Männlich, mittleren Alters, schlaffe Gesichtszüge. So, wie der ausgefranste Halsstumpf aussah, hatte derjenige, der ihn abgeschnitten hatte, nicht viel Übung darin gehabt. Jemand hatte einen frischen Lorbeerkranz um die tief gefurchte Stirn gelegt. Der Kopf atmete nicht, aber hinter den geschlossenen Augenlidern huschten die Augen mit den schnellen Bewegungen der REM-Phase hin und her. Um das Unterteil des Sockels herum hatte jemand mit mathematischer Präzision ein herkömmliches Pentagramm gezeichnet. Und um dieses herum hatte jemand eine Reihe von Ritualkreisen gezogen, die Symbole und Piktogramme eines halben Dutzends vergessener Kulturen enthielten. Da hatte jemand seine Hausaufgaben gemacht.
Nathaniel bedeutete mir, den Hinterkopf in Augenschein zu nehmen, also ging ich um den Sockel herum und warf einen Blick darauf. Dicke Gummischläuche waren in den rückwärtigen Teil des Kopfs des Mannes gestöpselt worden, zogen sich über den Boden und verschwanden durch die Tür in den Gang, vermutlich den ganzen Weg zurück hoch zu den Chemikalienbottichen. Ich beugte mich vor, um besser sehen zu können, und zuckte zusammen, als ich die primitiven Eintrittslöcher der Schläuche bemerkte. Das war nicht die Arbeit eines Chirurgen. Jemand hatte einfach in den hinteren Schädel gebohrt und dann die Schläuche in das freiliegende Hirn durchgeschoben. Ich umrundete den Kopf und betrachtete das Gesicht. Es sah weder glücklich noch unglücklich aus. Wären nicht die Bewegungen der Augen gewesen, ich hätte nicht gewusst, dass er noch lebte.