Die Kugel durchschlug seinen Kopf und sprengte Stücke kaputter Schläuche und Hirnmasse aus dem hinteren Teil seines Schädels. Seine Augen klappten auf, und zum ersten Mal seit Jahren war der Rote König endlich wach. Sein Mund weitete sich zu einem stummen Schrei der Wut und des Entsetzens, und der Ausdruck in seinem Gesicht und seinen Augen ließ keinen Zweifel daran, dass er wusste, was man mit ihm gemacht und ihm angetan hatte. Und in den letzten wenigen Momenten seines unnatürlich verlängerten Lebens, unter Einsatz einer Macht, die er von irgendeinem furchtbaren anderen Ort mit zurückgebracht hatte, machte sich der Professor daran, alles auszulöschen, was in seinem Namen getan worden war. Er blickte Bruder Nathaniel mit seinen schrecklichen Augen an, und Nathaniel verschwand. Wurde aus dem Sein gerissen, nicht real, nie gewesen. Schwester Eliza wandte sich zur Flucht, aber der Professor blickte sie an, und auch sie war verschwunden.
Ich war bereits auf dem Weg zur Tür, als der Traumraum um mich herum zu verschwinden begann. Die Wände, die so bemalt waren, dass sie dem Nachthimmel glichen, wurden durchsichtig und lösten sich auf, und ich konnte die Macht des Professors spüren, die mir folgte, als ich durch den langen Steingang nach oben sprintete. Es war etwas hinter mir, aber ich wagte es nicht, zurückzublicken. Ich platzte in den Raum mit den Chemikalienbottichen, und Bert drehte sich jäh um und starrte mich überrascht an. Er schrie erschreckt auf, als die großen Bottiche sich aufzulösen begannen, aber ich hatte den Raum schon hinter mir gelassen und kletterte die Wendeltreppe wieder hoch. Hinter mir erstarb Berts Stimme abrupt.
Die Holzstufen begannen sich zunehmend weich und immateriell unter meinen Füßen anzufühlen, aber keuchend schaffte ich es bis nach oben. Die Zeit, die ich gebraucht hätte, um meine Rüstung zu mobilisieren, konnte ich nicht erübrigen, und ich glaubte ohnehin nicht, dass sie mich vor Professor Redmonds Zorn hätte beschützen können. Ich rannte einfach weiter, durch die Bibliothek und weiter in die Kirche. Die mittelalterlichen Farbglasfenster waren bereits zu gewöhnlichem Glas verblasst; auch die Wände waren dabei zu verschwinden und enthüllten etwas dahinter, das zu schrecklich war, um es anzusehen. Im Boden hatten sich große Löcher aufgetan, und ich sprang verzweifelt darüber hinweg und raste auf die Tür zu.
Ich stürzte durch sie hindurch und auf die Straße hinaus, heftig nach Luft schnappend, und erst dann drehte ich mich um und blickte zurück. Die Kirche war weg; nichts war von ihr übrig als ein Loch zwischen den beiden modernen Gebäuden, wie ein gezogener Zahn. Die Kulissenschieber waren fort, waren nie gewesen. Der Rote König war endlich aus seinem langen Schlaf aufgewacht - und er war nicht gut gelaunt daraus aufgewacht.
Kapitel Zehn
Besuch beim Mittelsmann
Mein nächster Halt war Shaftesbury Avenue, tief im geschäftigen Herzen Londons. Ich war auf der Suche nach dem legendären Mittelsmann. Shaftesbury Avenue ist eine lange Straße in zwei Teilen. Geht man in die eine Richtung, sieht man lauter Nobelrestaurants, Luxushotels und Theater mit alten und sogar berühmten Namen. (Bedauerlicherweise prahlte eins dieser ehrwürdigen Etablissements gegenwärtig mit einem mächtigen Banner, auf dem die nächste große Show verkündet wurde: Jerry Springer, die Oper - On Ice. Wie sind die Helden gefallen; aber alles ist recht, wenn es die Touristen anlockt.) Geht man in die andere Richtung, sieht man lauter billige Lokale, Wettbüros und Videotheken für Erwachsene mit Puffs für Laufkundschaft im Dachgeschoss. Die Art von Orten, wo einem eine an die Tür geheftete Karte die günstige Verfügbarkeit der schönen Vera anzeigt. Was sie einem nicht anzeigt, ist, dass es eigentlich drei schöne Veras gibt, die in Acht-Stunden-Schichten arbeiten, weshalb das Bett auch immer warm ist. Nicht zu vergessen die Kellerclubs, wo dünn bekleidete und dick geschminkte Animierdamen einen dazu ermuntern, überteuerten ›Champagner‹ für das Privileg ihrer Gesellschaft zu kaufen. Allerdings sind es heutzutage fast nur noch die Touristen aus dem Ausland, die darauf reinfallen.
Ich war dem Mittelsmann zuvor noch nie begegnet, aber jeder wusste, dass man ihn genau in der Mitte der Shaftesbury Avenue finden konnte, wo das Gute auf das Schlechte trifft und sich oft zu etwas herrlich Sündigem vereinigt. Ich war ziemlich sicher, dass der Mittelsmann etwas Brauchbares wissen würde, falls ich ihn dazu bringen konnte, mit mir zu reden. Der Mann war viel herumgekommen, auf und hinter der Bildfläche, von den Sechzigern an, und er kannte jeden, Gute und Böse und besonders die dazwischen. Sein großes Können und seine große Leidenschaft war das Zusammenbringen von Leuten zum gegenseitigen Nutzen. Wenn man einmal eine geheime Verschwörung plante oder einen bewaffneten Raubüberfall, der größer als gewöhnlich ausfallen sollte, oder auch einfach nur eines Tages die Welt übernehmen wollte: Der Mittelsmann konnte einen mit allen Arten von Spezialisten in Berührung bringen, die man dazu brauchte. Er konnte Zusammenkünfte arrangieren, ein Team von gleichgesinnten Profis zusammenstellen oder jeden Schritt eines Mordanschlags organisieren. Gegen eine Provision. Man hatte nie gehört, dass er sich selbst die Hände schmutzig gemacht hätte oder ein Risiko eingegangen wäre, das nicht bis ins Kleinste kalkuliert war. Was immer passierte, man konnte sich darauf verlassen, dass immer für mehr als genug Sicherungen gesorgt war, sodass nichts jemals zurückkam und an seiner Tür haften blieb. Es hieß, der Mittelsmann sei derzeit, nach so vielen arbeitsamen Jahren, so unfassbar reich, dass er es nicht mehr des Geldes wegen tun musste. Er tat es ausschließlich der Herausforderung und des Nervenkitzels wegen.
Man findet den Mittelsmann hinter einem schäbigen, absichtlich heruntergewirtschafteten Thairestaurant. Von außen sieht es auf entschlossene Weise abstoßend schmutzig und unappetitlich aus, die Art von Lokal, mit dem es nur ein wahrhaft verzweifelter oder naiver Tourist versuchen würde. Tatsächlich bedeuten die Thaiworte über der Tür angeblich: Verpiss dich, Ausländer, und nimm deine lächerlich aussehenden Augen mit dir mit! Ich spähte durch das mit Fliegendreck übersäte Fenster ins Innere, vorbei an der nicht zu entziffernden Pappspeisekarte, und war nicht überrascht festzustellen, dass das Restaurant völlig leer war, und das zu einer Zeit des Abends, wo es am vollsten hätte sein sollen. Die wackligen Tische waren mit Resopal überzogen, die Stühle aus billigem Plastik und in keiner Weise sauber und der Linoleumfußboden unbeschreiblich. Irgendwie wusste ich genau, wer so töricht oder tapfer war, dieses Lokal zu betreten, würde nicht das kriegen, was er bestellte, und wenn er trotzdem versuchte es zu essen, würde das Personal sich aus der Küchentür hinauslehnen, kichern und einander mit den Ellbogen anstoßen und sich zuraunen: Guck dir das an! Er isst es tatsächlich!
Das Restaurant ist nicht dafür vorgesehen, dass jemand hier isst. Es ist bloß eine Fassade für den Mittelsmann. Selbst die Angestellten gehen sich ihr Essen woanders holen.
Ich nahm den Kopf tief herunter, damit niemand mein Gesicht erkennen konnte, knallte die Tür auf und ging mit forschen Schritten hinein. Ich ignorierte das überraschte Thaipersonal und steuerte geradewegs auf die Küchentür im hinteren Teil des Gastraums zu. Die Kellner waren zu verblüfft, um mich aufzuhalten, und zeigten erst eine Reaktion, als ich die Tür aufstieß. Ich hörte ihre Schreie hinter mir, als ich in die Küche marschierte, als ob ich gekommen sei, um sie für gesundheitsschädlich zu erklären, und dann rüstete ich hoch und setzte die Tarnkappenfunktion außer Funktion. Das Küchenpersonal warf einen Blick auf mich in meiner goldenen Rüstung und wich mit bestürzten Schreien zurück wie ein Haufen aufgescheuchter Vögel. Hinter mir kamen die Kellner, die sich mit Messern und Beilen bewaffnet hatten, in die Küche gestürzt, nur um ruckartig stehen zu bleiben, als ich mich ohne Eile umdrehte und sie anblickte. Der Ruf meiner Familie reicht sehr weit. Der Oberkellner legte ein Fleischermesser weg und bedeutete allen anderen, die Waffen zu senken.