»Wenn Sie es sagen!«, meinte Molly lächelnd. »Aber … haben Sie denn nie einen ihrer Befehle infrage gestellt? Einen ihrer Aufträge?«
»Wieso sollte ich? Sie kamen von meiner Familie. Wir wurden alle großgezogen, um den guten Kampf zu kämpfen, um die Welt zu beschützen, um uns selbst als Helden im größten Spiel von allen zu betrachten. Familie war das eine, worauf man sich in einer unzuverlässigen Welt verlassen konnte. Also brachte ich die Leute um, die sie mir nannten. Und wenn ich auch manchmal nicht glücklich darüber war, was ich machte … ich lernte damit zu leben.«
»Und deshalb leben Sie allein«, sagte Molly. »Abgesehen von Familie, wer könnte hoffen, die Dinge zu verstehen, die wir tun?«
Wir saßen eine Weile still da und hörten Enya zu, die auf dem tragbaren CD-Spieler sang. Von draußen kam das leise Murmeln des Windes, die Geräusche des Wassers und des Kais und das ferne Grollen des Stadtverkehrs. Eine ganze Welt, die weitermachte, genau wie immer, nicht wissend, dass alles sich geändert hatte. Aber das … musste bis morgen warten. Ich konnte spüren, wie mein Körper sich langsam entspannte, herunterdrehte von einem Tag, von dem ich gedacht hatte, er würde niemals enden.
»So«, sagte Molly schließlich. »Was machen wir als Nächstes? Was können wir als Nächstes machen?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete ich aufrichtig. »Ich habe viel erfahren, was ich nicht gewusst habe, aber nicht das, was ich wissen muss: Warum meine Familie mich den Wölfen vorgeworfen hat. Warum ich von einer Familie für vogelfrei erklärt worden bin, der ich mein ganzes Leben lang treu gedient habe. Warum meine eigene Großmutter mich unbedingt tot sehen will. Irgendetwas muss ich getan haben, aber der Teufel soll mich holen, wenn ich weiß, was. Ich meine, ich weiß jetzt, wieso meine Familie sich so lang an die Macht geklammert hat; ich weiß, worum es bei den Geschäften der Drood-Familie wirklich geht. Aber es ist nicht so, dass ich irgendetwas davon vor dem heutigen Tag gewusst oder auch nur geahnt hätte.«
»Haben Sie schon einmal in Betracht gezogen, mit anderen Mitgliedern der Familie in Verbindung zu treten, die selbst ausgestoßen wurden?«, fragte Molly plötzlich. »Würden Sie das gerne? Ich meine, wenn schon sonst nichts, sollten die wenigstens in der Lage sein, Ihnen einige wertvolle Tipps zu geben, wie man sich vor Ihrer Familie versteckt, wie man auf sich allein gestellt überlebt, draußen in der Welt.«
Ich dachte darüber nach. Ich hatte immer noch eine entschiedene Abneigung gegen das Wort vogelfrei, auch wenn ich es inzwischen selbst war. Im Lauf der Familiengeschichte hatte es schon immer Vogelfreie gegeben, gewisse Individuen, die den Einfluss der Familie abgeschüttelt und Reißaus in die Welt genommen hatten. Oder aus gutem Grund weggejagt worden waren. Ihre Namen wurden aus der Ahnentafel der Familie gestrichen, und niemand durfte sie jemals wieder erwähnen. Genau in diesem Moment, daheim im Herrenhaus, war jemand dabei, sämtliche Spuren meiner Existenz auszulöschen, und jeder, der mich je gekannt hatte, würde angewiesen werden, nie mehr meinen Namen zu gebrauchen. Selbst mein Onkel Jack und mein Onkel James würden mitziehen. Für die Familie. Vogelfreie waren schlimmer als Verräter; sie waren eine Peinlichkeit. Und so verbrachten sie ihr Leben versteckt und in ständiger Tarnung, um nicht gehetzt und getötet zu werden.
»Der einzige Vogelfreie, den ich je gekannt habe«, sagte ich langsam, »war der Blutige Mann, Arnold Drood. Übler kleiner Scheißkerl. Wissen Sie, was er getan hat? Mit den Kindern? Ich kann nicht glauben, wie lange er es geheim halten konnte … Wie dem auch sei, die Familie sagte mir, was er getan hatte und wo er sich versteckt hielt, und ich ging geradewegs hin und tötete ihn.« Ein schrecklicher Gedanke schoss mir durch den Kopf, und ich schaute Molly ängstlich an. »Sie sagten es mir … aber war es auch wirklich wahr? Habe ich einen unschuldigen Mann umgebracht?«
»Nein!«, sagte Molly schnell und tätschelte mir beruhigend den Arm. »Entspannen Sie sich, Eddie! Er hat tatsächlich die ganzen entsetzlichen Sachen gemacht, die ihm alle nachgesagt haben. Ihre Familie waren nicht die Einzigen, die sich dem Blutigen Mann an die Fersen geheftet hatten. Aber nur einer von euch konnte ihn trotz seiner Rüstung erwischen.« Einen Augenblick lang sah sie mich nachdenklich an. »Wie haben Sie es geschafft, ihn zu töten, Eddie?«
»Das war nicht schwer«, antwortete ich. »Ich habe gemogelt. Lassen Sie uns das Thema wechseln! In Anbetracht der Tatsache, dass ich so lange ein so guter Soldat gewesen bin, wird sich da überhaupt einer der anderen Vogelfreien bereit erklären, mit mir zu reden?«
»Sie werden mit mir reden«, sagte Molly. »Ich hatte in meiner Zeit mit ein paar von ihnen zu tun. Schauen Sie nicht so schockiert, Eddie! Sie befinden sich jetzt draußen in der wirklichen Welt, und hier packen wir die Dinge anders an. Allianzen kommen und gehen, und wir alle verkehren, mit wem immer wir eben verkehren müssen, um unsere Angelegenheiten erledigt zu bekommen. Ich habe keine Familie, die mich unterstützt, also habe ich mir aus den wenigen Menschen, denen ich wirklich vertraue, meine eigene gemacht. Ich kenne überall Leute. Und ich kenne auch Leute, die Leute kennen. Genau genommen kenne ich drei vogelfreie Droods, die in und um London leben. Wenn ich mich für Sie verbürge, werden sie einem Treffen zustimmen. Wahrscheinlich.«
»Mir liegt nichts daran, bloß zu überleben«, sagte ich. »Ich werde mich nicht in einem Loch verkriechen und es hinter mir zuscharren wie die andern Vogelfreien. Ich muss meine Familie zu Fall bringen, tief zu Fall bringen, für das, was sie getan haben. Dafür, dass sie nicht sind, was sie zu sein behauptet haben. Aber … es muss auch jemand da sein, der stark genug ist, das Manifeste Schicksal aufzuhalten. So schlimm meine Familie auch ist, diese Dreckskerle sind noch schlimmer. Und Sie können darauf wetten, dass der ganze Schaden, den wir ihnen heute zugefügt haben, sie noch nicht mal bremsen wird. Sie sind groß und sie sind organisiert und sie sind verkommen bis ins Mark. Falls ich die Macht der Droods über die Welt breche … wer wäre dann noch übrig, der stark genug ist, Truman an all den schrecklichen Sachen zu hindern, die er jedem antun will, der nicht zum Manifesten Schicksal gehört?«
»Da gibt es eine offensichtliche Antwort«, sagte Molly. »Hetzen Sie sie sich gegenseitig auf den Hals!«
»Nein!«, widersprach ich sofort. »Ich will nicht dafür verantwortlich sein, einen Krieg anzufangen. Zu viele Unschuldige würden sterben, weil sie ins Kreuzfeuer geraten. Außerdem hat auch nicht jeder in meiner Familie Dreck am Stecken; manche sind gute Menschen, die den guten Kampf nicht nur aus Verpflichtung der Familie gegenüber kämpfen, sondern einfach weil sie glauben, dass es das Richtige ist.«
»Wenn Sie es sagen!«, meinte Molly.
Jetzt war die Reihe an mir, sie nachdenklich zu betrachten. »Ich kam nicht umhin zu bemerken, Molly, dass Sie heute sehr … wortkarg, geradezu zurückhaltend waren. Keine Ihrer üblichen wilden Zaubereien wie sonst in unseren Kämpfen. Genau genommen haben Sie den Großteil der harten Arbeit mir überlassen.«
Sie grinste. »Ich habe mich schon gefragt, wann Sie es wohl merken würden. Ich habe Sie in Aktion beobachtet, Eddie, wollte sehen, was Sie können. Ich habe versucht, mir ein Bild davon zu machen, wer Sie wirklich sind. Ich habe die Droods die meiste Zeit meines Lebens gehasst und bekämpft, und das aus gutem Grund: Sie haben meine Eltern ermordet, als ich noch ein Kind war.«
»Es tut mir leid!«, sagte ich. »Das wusste ich nicht.«
»Ich habe nie herausgefunden, warum. Droods stehen nicht darauf, ihre Handlungen zu erklären. Deshalb konnte Truman mich auch so leicht umgarnen … Aber Sie waren schon immer anders, Eddie. Ich habe zu meiner Zeit gegen ein Dutzend verschiedener Drood-Agenten gekämpft, aber Sie … Sie waren der Einzige, der jemals sauber gekämpft hat. Sie haben mich immer … fasziniert, Eddie.«