Die Tür schwang auf und enthüllte eine angenehm offene Eingangshalle. Hübsche Teppiche, gemütliche Möbel, Gedenktafeln und Auszeichnungen an den Wänden. Der einzige Misston war, dass die Empfangsdame in ihrer eigenen kleinen Kabine hinter schwerem verstärktem Glas saß. Sie war eine matronenhafte Frau mittleren Alters in der unvermeidlichen weißen Krankenhauskleidung mit einem ungezwungenen, freundlichen Lächeln. Molly lächelte und nickte vertraulich zurück, und die Empfangsdame schob uns durch einen schmalen Schlitz im Glas ein Gästebuch zu, damit wir uns darin eintrugen. Nach nur einem Moment des Zögerns schrieb ich Mr.& Mrs. Jones.
»Oh, wie nett!«, sagte die Empfangsdame fröhlich. »Mal was anderes als die ganzen Smiths, die wir sonst hier haben! Die meisten Leute legen keinen Wert darauf, ihren richtigen Namen zu benutzen, wenn sie Verwandte besuchen kommen - nur für den Fall, dass jemand herausfindet, dass es einen Kannibalen in der Familie gibt. Obwohl wir natürlich bei solchen Dingen immer größte Sorgfalt walten lassen. Schön, Sie wieder hier zu sehen, Molly! Die meisten Leute kommen nicht gern an einen Ort wie diesen. Wir haben die ganzen Bösen hier: die Kindermörder, die Serienvergewaltiger, die Tierverstümmeler …. All die Patienten, die sonst keiner will oder mit denen sonst keiner zurechtkommt. Erst vor wenigen Wochen hatten wir den Dorset-Schlitzer hier: lammfromm, überhaupt keine Schwierigkeiten.«
»Wir sind hier, um meinen Onkel John zu besuchen«, sagte Molly und beendete einen Monolog, der kein Ende zu nehmen drohte. »John Stapleton?«
»Natürlich sind Sie das, meine Liebe! Der Seltsame John, so nennen wir ihn. Er ist nie ein Problem, Gott segne ihn! Keine Ahnung, was er getan hat, dass man ihn an einen Ort wie diesen geschickt hat, vor meiner Zeit, aber es muss ziemlich schlimm gewesen sein, denn es ist nie darüber gesprochen worden, ihn in eine weniger sichere Einrichtung zu überweisen, obwohl er sich so gut benimmt. Denken Sie daran: Halten Sie hier immer die Augen auf, meine Lieben! Viele Patienten an diesem Ort sind die letzten Gesichter, die viele Menschen jemals sahen! Nun machen Sie es sich bequem, und ich werde einen Aufseher herrufen, der sie ins oberste Stockwerk begleitet.«
Molly ließ sich in einem behaglichen Sessel nieder, aber mir war nicht nach Sitzen zumute. Das hier war kein gemütlicher Ort, trotz allem Schnickschnack. Ich schaute durch eine offene Tür in einen angrenzenden Aufenthaltsraum, in dem Patienten in Morgenmänteln einfach nur herumsaßen. Das war nicht das, was ich erwartet hatte. Keine sich hin und her werfenden Gestalten in Zwangsjacken, keine allgegenwärtigen muskulösen Wärter, die darauf warteten, jeden, der ungezogen war, windelweich zu prügeln. Stattdessen bloß eine Kollektion ganz normal aussehender Leute, die in Sesseln saßen, in Zeitungen und Magazinen blätterten oder sich die morgendlichen Fernsehshows ansahen. Der einzige anwesende Pfleger saß im Hintergrund und löste das Times-Kreuzworträtsel. Als Molly neben mich kam, zuckte ich unwillkürlich ein bisschen zusammen.
»Heutzutage wird alles mit Freundlichkeit gemacht«, erklärte sie mir leise. »Der chemische Knüppel. Sie sind alle vollgepumpt mit Medikamenten, damit sie keine Schwierigkeiten machen oder freche Antworten geben. Allerdings wirst du überall Überwachungskameras bemerken, für den Fall eines Falles. Die richtigen Härtefälle werden außer Sicht verwahrt, um die Besucher nicht zu vergrätzen.«
»Das stimmt«, sagte unsere Begleitung, die plötzlich neben uns erschien: noch ein muskulöser Mann in weißer Krankenhauskleidung, diesmal mit rasiertem Kopf und einem selbstzufriedenen Grinsen im Gesicht. Er behielt eine Hand am Gürtel, direkt neben dem Gummiknüppel, und machte keine Anstalten, uns die andere zu geben. »Hallo, ich bin Tommy. Fragen Sie mich, was Sie wollen! Ich bin sozusagen schon ewig hier. Es gibt gutes Geld, viel Urlaub, und die Arbeit ist die meiste Zeit über nicht besonders schwierig. Kaum irgendwelche Aufregung dieser Tage. Die Wunder der modernen Wissenschaft; besser leben durch Chemie!« Er sah durch die Tür in den Aufenthaltsraum und kicherte ungeniert. »Schauen Sie sie sich an! Man könnte ihnen die Pantoffel in Brand stecken, und sie würden es nicht merken! Wie Ihre Frau gesagt hat, die richtigen Tiere halten wir unten, in der Bärengrube.« Er kicherte noch einmal und sah Molly von der Seite an. »Wir mussten Ihren Onkel John ein paarmal runterstecken, als er anfangs hier war. Danach hat er uns keinen Arger mehr gemacht.«
»Wie geht es ihm?«, erkundigte sich Molly. »Hat mein Onkel einen seiner guten Tage?«
Tommy zuckte leichthin die Schulter. »Schwer zu sagen bei ihm. Solange er sich benimmt, ist das alles, was mich interessiert.« Wieder kicherte er und schaute diesmal mich an. »Der seltsame John - so nennen wir ihn hier. Er ist wirklich nicht ganz beieinander, das arme Schwein. Erster Besuch, was? Erwarten Sie nicht zu viel von dem alten Mann! Wir halten ihn gut sediert, damit er nicht herumwandert. Viele von unsern Schäfchen bekommen nervöse Beine …«
»Es ist gut zu wissen, dass Sie sich so gut um meinen Onkel kümmern«, sagte Molly. »Ich darf nicht vergessen, Ihnen eine Kleinigkeit zu geben, bevor ich wieder gehe!«
Tommy lächelte und nickte, der Gimpel.
Er und Molly unterhielten sich noch weiter, aber ich hörte ihnen nicht mehr zu. Ich benutzte den Blick, den der Torques mir verlieh, um die Eingangshalle so zu sehen, wie sie wirklich war, verborgen vor den Augen bloßer Sterblicher. Überall waren Dämonen; sie huschten über die Decke, hingen an den Wänden und ritten auf den Rücken der Patienten. Dämonen lösen keinen Wahnsinn aus, aber sie ergötzen sich an dem Leiden, das er verursacht. Einige Dämonen waren fett und aufgebläht geworden, wie Parasiten, die sich mit zu viel Blut vollgestopft hatten. Ein untersetztes, schwarzes Insektenwesen hockte zu Füßen des anwesenden Pflegers, wie ein treues Haustier, das auf einen Leckerbissen wartete. Manche Dämonen merkten, dass ich sie sehen konnte. Sie bewegten sich unbehaglich, versenkten ihre Stachelklauen und Greifhaken in Rücken und Schultern der Patienten, um klarzumachen, dass sie ihre Opfer nicht kampflos aufgeben würden. Ich hätte gern jeden einzelnen Dämon im Raum getötet, sie von ihren Opfern heruntergerissen, ihre Schädel und Rückenpanzer unter meinen goldenen Fäusten brechen und zersplittern gefühlt, aber ich durfte es nicht riskieren, eine Szene zu machen. Ich musste den Seltsamen John sehen. Ich musste erfahren, was er wusste.
Ich wandte dem Aufenthaltsraum den Rücken zu und stellte den Blick ab. Es hat schon seinen Grund, weshalb ich ihn nicht sehr oft einsetze. Wenn wir alle die ganze Zeit über die Welt sehen könnten, wie sie wirklich ist, könnten wir es nicht ertragen, darin zu leben. Nicht einmal wir Droods. Unwissenheit kann ein Segen sein.
Ich gesellte mich wieder zu Molly, die sofort meine Ungeduld spürte. Sie hörte auf, den Wärter auszuquetschen, und sagte ihm, sie möchte jetzt ihren Onkel sehen. Tommy zuckte die Schulter und führte uns zu den Aufzügen. Und die ganze Zeit dachte ich: Drei Tage, höchstens vier. Ein Teil von mir wollte schmollen und mit den Füßen aufstampfen und schreien: Unfair! Aber wann war mein Leben jemals fair gewesen? Ich konnte es mir nicht leisten, der Hysterie nachzugeben; ich musste ruhig und konzentriert bleiben. Vielleicht würde mir, am Ende, nur übrigbleiben, kämpfend unterzugehen und so viele meiner Feinde mit mir zu nehmen, wie ich konnte.
Wenn es so war, dann konnte ich es nicht erwarten loszulegen.
Tommy brachte uns hoch ins oberste Stockwerk. Der Aufzug hatte sein eigenes Sicherheitsschloss. Ich guckte Tommy unauffällig über die Schulter, als er die Kombination einhämmerte: Und siehe da, es war 4321! Hier hätte eine Gruppe entschlossener Pfadfinder einbrechen können! Und würde heutzutage wahrscheinlich eine Auszeichnung dafür erhalten.