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»Wieso Seltsamer John?«, fragte ich unvermittelt. »Was ist eigentlich so … seltsam an ihm?«

Tommy kicherte. Dieses Geräusch hatte ich langsam wirklich satt. »Weil er mit Leuten redet, die nicht da sind, und oft nicht mit Leuten reden will, die da sind. Er sieht Dinge, die sonst niemand sehen kann, und erzählt allen möglichen Mist darüber, wenn man ihn lässt. Der Kerl lebt in seiner ganz eigenen Welt. Früher hatte er echt schlimme Albträume, bis wir seine Medikation erhöht haben. Um fair zu sein muss man allerdings sagen, dass er nie gewalttätig ist; isst immer brav sein Essen auf und macht nie Theater, wenn er seine Pillen nehmen soll. Das sind an einem Ort wie diesem die besten Patienten.«

Er führte uns bis ganz ans Ende des Korridors. Die Wände waren in blassen Pastellfarben gestrichen, als ob man vermeiden wollte, dass die Patienten überreizt wurden. Bewegungsempfindliche Kameras folgten uns den ganzen Weg. Die Tür zum Zimmer des Seltsamen John stand halb offen; Tommy trat zurück und bedeutete Molly und mir einzutreten.

»Falls es irgendwelche Probleme gibt: Direkt neben der Tür ist ein großer roter Alarmknopf. Wenn Sie den drücken, komm ich angerannt. Scheuen Sie sich nicht, ihn zu benutzen! Vor nicht allzu langer Zeit hatten wir eine Schwester hier, die einen Kerl zu nah an sich herangelassen hat, und er hat ihr das halbe Gesicht abgebissen, bevor wir ihn wegziehen konnten. Wir haben ihn anschließend halb totgetreten, aber das hat ihr wenig geholfen. Sie kam nie wieder. Kann es ihr nicht verübeln! Hab allerdings gehört, sie soll 'ne echt anständige Entschädigung gekriegt haben. Das sind alles kranke, bösartige Dreckskerle, sonst wären sie nicht hier. Is' nicht bös gemeint, Molly! Besuchen Sie mal schön Ihren Onkel John!«

Er schlenderte fort, und Molly und ich blickten einander an. »Fröhliches Kerlchen«, sagte sie.

»Den Eindruck hatte ich auch.«

»Ich muss wirklich daran denken, ihm einen scheußlichen Fall von Hämorrhoiden zu verpassen, bevor ich gehe.«

»Tu das! Sollen wir reingehen?«

Wir gingen rein. Das Zimmer machte einen ganz angenehmen Eindruck. Noch mehr beruhigende Farben an den Wänden, ein bequem aussehendes Bett und ein paar einfache Möbel, alle offensichtlich am Boden verschraubt. Ein paar Bücher in einem Regal, Blumen in Vasen und ein Fernseher in einer Ecke, ausgeschaltet. Der Patient saß ruhig in einem Sessel am Fenster und sah durch die Gitterstäbe. Ein gebrechlicher alter Mann in einem verblassten Morgenmantel. Er blickte sich weder um, als wir hereinkamen, noch zeigte er sonst eine erkennbare Reaktion, als wir uns ihm näherten. Ich überprüfte ihn kurz mit dem Blick. Er hatte nirgends einen Dämon an sich, aber er trug einen golden Reif um den Hals. Er war tatsächlich ein Drood. Ich ging um ihn herum, um ihm richtig ins Gesicht sehen zu können, und schnappte nach Luft und starrte ihn mit offenem Mund an.

»Was?«, fragte Molly. »Was ist los? Erkennst du ihn?«

»Teufel noch mal, ja! Sein Name ist nicht John: Das ist William Dominic Drood. Und er ist kein Vogelfreier; er wird als vermisst aufgeführt. Die Familie sucht schon seit Jahren nach ihm! Er war der Oberbibliothekar, daheim im Herrenhaus. Einer unserer allerbesten Forschungsgelehrten! Eines Tages … verschwand er einfach und wurde nie mehr gesehen. Und glaub mir, wir alle haben wirklich schwer nach ihm gesucht! Er wusste alle möglichen Sachen über die Familie und das Herrenhaus, Geheimnisse, bei denen wir es uns nicht leisten konnten, dass sie jemand außerhalb der Familie kennt. Aber wir haben ihn nie gefunden. Sein Verschwinden ist eins der großen ungelösten Rätsel meiner Familie. Und die ganzen Jahre über war er … hier?«

Ich hielt inne und sah unvermittelt auf die Überwachungskamera in der anderen Ecke das Zimmers.

»Alles in Ordnung«, sagte Molly schnell. »Ich habe sie mit meinem Illusionszauber belegt, als wir durch die Tür gekommen sind. Sie werden sehen, was sie zu sehen erwarten, sonst nichts. Aber es wird nicht lange halten. Also rede mit dem Mann! Nenn ihn bei seinem richtigen Namen! Ich habe alles versucht, was mir eingefallen ist, und nie mehr als ein Dutzend Worte aus ihm herausbekommen. Probier, ob du mehr Glück hast! Aber mach schnell! Die Zeit ist nicht auf unsrer Seite!«

»Ich weiß«, erwiderte ich. »Glaub mir, ich weiß!«

Ich ging neben dem Sessel des Seltsamen John in die Hocke. Auf die Art fiel es mir leichter, an ihn zu denken, hauptsächlich wegen des wirklich beunruhigenden Blicks in seinen Augen. Was immer er draußen vor seinem Fenster sah, ich war mir ziemlich sicher, dass ich es nicht sehen würde, wenn ich hinaussähe. Oder es sehen wollte.

»William?«, sagte ich. »William Dominic Drood. Kannst du mich hören?«

Er blickte sich nicht einmal um. Der traurige, verlorene Ausdruck in seinem Gesicht änderte sich keinen Moment lang.

»Versuch, ihm deinen Torques zu zeigen!«, sagte Molly auf einmal. »Das könnte etwas ihn ihm auslösen.«

Nur mit der rechten Hand öffnete ich die oberen Knöpfe meines Hemds und legte den goldenen Reif um meinen Hals frei. Ich nahm das Kinn des Seltsamen John in die Hand und drehte sein Gesicht sanft, aber bestimmt herum, sodass er mich ansehen musste. »Hör mir zu, William! Ich bin Edwin Drood, geschickt, um dich zu finden. Schau meinen Torques an! Erinnerst du dich an mich? Ich bin die ganze Zeit in der Bibliothek ein und aus gegangen, als ich noch ein Kind war.«

Er sah auf den Torques, und einfach so - wachte er auf. Es war unheimlich, sogar entsetzlich, zu sehen, wie eine ganz neue Persönlichkeit in sein Gesicht floss, wie Wasser, das in ein Glas strömte. Er sah aufgeweckt und intelligent und nicht im Geringsten verrückt oder mit Medikamenten vollgepumpt aus. Er sprang aus seinem Sessel auf und wich vor mir zurück, wobei er beide Hände von sich streckte, als ob er mich abwehren wollte.

»War es das?«, fragte er. »Bist du gekommen, um mich endlich zu töten, für die Familie?«

»Nein, nein!«, sagte ich schnell. »Ich will dir nichts Böses! Ich bin nicht im Auftrag der Familie hier. Ich bin für vogelfrei erklärt worden und weiß nicht, warum. Ich habe gehofft, du könntest einige Antworten haben, oder wenigstens ein paar Ratschläge.«

Er beruhigte sich fast augenblicklich, kam zurück und ließ sich in seinem Sessel nieder. »So!«, sagte er schließlich. »Eddie Drood. Selbstverständlich erinnere ich mich an dich! Du hast mich ständig mit Fragen geplagt, alles in Zweifel gezogen, dir Bücher ausgeliehen und nie zurückgebracht. Der beste Schüler, den ich je hatte. Und jetzt bist du ein Vogelfreier in Begleitung der berüchtigten Molly Metcalf. Nichts für ungut, meine Liebe!«

»Schon gut!«, sagte Molly. »Erinnern Sie sich daran, dass ich früher schon hier gewesen bin?«

»Ich fürchte, nein. Ich … ich komme nicht mehr viel raus. Außer wenn ich unbedingt muss. Es gab Überlegungen, mich von hier zu verlegen. Denen habe ich schnell ein Ende gesetzt …«

»Aber warum?«, wunderte ich mich. »Was tust du hier, an einem Ort wie diesem? Was ist dir zugestoßen?«

Er sah mich traurig an. »Ich kann die Geister von allen sehen, die du je getötet hast, Eddie. Es sind so viele … Und da ist etwas in dir, etwas anderes … Ich sehe dieser Tage so klar, ob ich will oder nicht.« Er schaute hinüber zu Molly, die sich jetzt auf der anderen Seite seines Sessels niederkauerte. »Und Sie haben so viele unglückselige Übereinkünfte getroffen, um die Macht zu bekommen, die Sie wollten. Um Ihre armen Eltern zu rächen. Ich kann die Ketten sehen, die Sie mit sich schleppen und die Sie niederdrücken. Eine so große Last für jemanden, der so jung ist …« Er blickte erneut aus dem Fenster, damit er Molly oder mich nicht mehr ansehen musste.

»Was siehst du da draußen?«, fragte ich.

»Alle Anblicke aus allen anderen Dimensionen, die sich mit dieser hier schneiden. Ich sehe einen Wald aus Blumen, die in schrecklichen Harmonien singen. Ich sehe eine große, steinerne Honigwabe, tausend Fuß hoch, mit Leuten, die in den Zellen ein und aus krabbeln und wie Insekten an den Wänden hochhuschen. Ich sehe Türme aus reinem Licht und Wasserfälle aus Blut und einen Friedhof, wo sie aus ihren Gräbern steigen und im Mondlicht tanzen.«