Sie machten mich stolz, ein Drood zu sein.
»Zeit zu verschwinden!«, raunte ich Molly zu.
»Verflucht, deine Angehörigen sind gut!«, sagte sie.
Wir schlichen uns weg, bloß zwei weitere entsetzte Fußgänger, die vor dem Gemetzel die Flucht ergriffen. Plötzlich bemerkte ich, dass auf Mollys Gesicht Blut war; es tropfte ihr aus der Nase und lief ihr aus dem Mund übers Kinn. Sie versuchte, es mit einem kleinen Seidentaschentuch aus ihrem Ärmel abzutupfen, was jedoch nur dazu führte, dass sie es noch mehr verteilte. Ich unterbrach sie und nahm mein eigenes Taschentuch heraus. Molly blieb still stehen und ließ mich das Blut von ihrem Gesicht abtupfen.
»Was ist passiert?«, fragte ich. »Bist du getroffen worden? Hat dich eine Kugel erwischt?«
»Nein«, antwortete Molly, »das habe ich selbst zu verantworten. Ich hab's dir ja gesagt: Raumportale sind ernst zu nehmende Magie; sie verlangen mir viel ab. Und was ich dann obendrein noch mit dem Motorrad gemacht habe … Für Magie muss man immer bezahlen, auf die ein oder andere Art. Deshalb sind Rituale und Vorbereitung ja auch so wichtig: Sie rufen die für meine Zauber nötigen Energien hervor, sodass ich nicht auf die Reserven meines eigenen Körpers zugreifen muss. Und für dich habe ich kürzlich eine Menge schneller und schmutziger Zauber gewirkt, Eddie.«
»Es tut mir leid«, sagte ich. »Das wusste ich nicht. Mir war nicht klar, was ich von dir verlangt habe. Glaub nicht, ich wüsste das nicht zu würdigen! So, jetzt siehst du besser aus.«
»Danke.«
»Schon gut. Ich kann doch nicht zulassen, dass du Aufmerksamkeit auf uns ziehst, oder?«
»Du bist ja so ein Gentleman!« Sie sah mich an. »Du siehst selbst ziemlich … scheiße aus, Eddie. Was macht der Arm?«
»Ist schlimmer ohne die Rüstung.«
»Das Gift breitet sich aus, stimmt's?«
»Ja. Das Schmerz ist über meine Schulter gewandert und sitzt jetzt auch in meinem Brustkorb. Sind wir weit von deinem nächsten vogelfreien Agenten weg?«
»Nicht allzu sehr. Ich bin die ganze Zeit über schon in die allgemeine Richtung gefahren; von hier aus können wir ihn zu Fuß erreichen.«
»Gut! Dann wollen wir mal den Maulwurf in seinem Loch besuchen!«
»Witzig, dass gerade du das sagst«, meinte Molly.
Kapitel Sechzehn
Allein daheim
Ich war nicht scharf darauf, das U-Bahnnetz wieder zu betreten, aber Molly bestand darauf. Es kam mir so vor, als ob mir jedes Mal, wenn ich mich in letzter Zeit unter die Erde begeben hatte, schlimme Dinge widerfahren wären. Aber andererseits war es oberirdisch auch nicht so besonders sicher gewesen. Molly und ich gingen den Weg zurück, den wir gekommen waren, und hielten auf den Bahnhof Blackfriars zu, und es war, als ob wir durch Kriegsgebiet gingen. Verunglückte Autos, brennende Geschäfte, Schäden und Trümmer überall. Menschen wankten durch die Gegend, benommen und verwirrt, und schrien und klammerten sich aneinander. Und Leichen, auf der Straße oder aus ausgebrannten Räumlichkeiten auf den Bürgersteig hinausgezerrt, manchmal anständig mit einem Mantel bedeckt, häufiger nicht. Ich fühlte mich wie betäubt, angeekelt: Das hier hätte nicht passieren dürfen! In all den geheimen Kämpfen, die ich jemals gefochten hatte, hatte ich nicht ein einziges Mal zugelassen, dass sie in die wirkliche Welt überschwappten. Und garantiert nie hatte ich zugelassen, dass Zivilisten zu Schaden kamen.
»Hör auf damit!«, sagte Molly ruhig. »Nichts hiervon ist deine Schuld. Das Manifeste Schicksal ist verantwortlich für das, was hier geschehen ist, die Dreckskerle.«
»Wir haben uns von ihnen jagen lassen«, wandte ich ein.
»Was war die Alternative? Nicht weichen und schnell sterben - günstigstenfalls? Ich glaube nicht. Du kannst dir nicht erlauben, geschnappt zu werden, Eddie! Du kannst nicht zulassen, dass dem Manifesten Schicksal eine Waffe wie deine Rüstung in die Hände fällt! Und außerdem musst du in Freiheit bleiben, weil du die Wahrheit kennst! Du hast eine Verantwortung - die Verantwortung, etwas zu tun und das Manifeste Schicksal und deine Familie daran zu hindern, die Welt wie ihr eigenes kleines Privatreich zu führen. Du bist die einzige Hoffnung, die diese Menschen haben!«
»Dann stecken sie in ernsten Schwierigkeiten«, sagte ich nach einer Weile.
»So ist es besser!«, lobte Molly. »Lass dich nicht von diesen Dreckskerlen fertigmachen, Eddie!«
Der Eingang zum Bahnhof Blackfriars war mit Menschen vollgestopft, Flüchtlinge, die sich vor dem Chaos in den Straßen versteckten. Alle schnatterten und schrien aufeinander ein, aber es war offensichtlich, dass keiner einen Schimmer hatte, was tatsächlich los war. Molly und ich bahnten uns vorsichtig unseren Weg durch das Gedränge auf den Treppen und hinunter auf die Aufzüge zu. Ich hatte mir Sorgen gemacht, dass das Manifeste Schicksal oder meine Familie noch Agenten hier unten in den Bahnhöfen haben könnten, die nach uns Ausschau hielten, aber in einer Menschenmenge dieses Ausmaßes waren Molly und ich bloß zwei Leute mehr. Sogar die blockierten Aufzüge waren voller schockierter und verwirrter Menschen, von denen manche weinten, manche andere trösteten oder selbst getröstet wurden. Keiner von ihnen verstand, was vor sich ging, nur dass sich etwas viel Größeres und Gemeineres als sie selbst in ihre friedlichen Alltagsleben gedrängt hatte. Genau um das zu verhüten, hatte ich mein Leben lang gekämpft.
Ich kam mir vor, als ob ich sie im Stich gelassen hätte, und das bedeutete mir viel mehr, als meine Familie es je getan hatte.
Unten auf dem überfüllten Bahnsteig begaben Molly und ich uns unauffällig zu einem Erfrischungsgetränkeautomaten mit einem »Außer Betrieb«-Schild daran. Wir blickten uns rasch um, um uns zu vergewissern, dass niemand uns beobachtete, und dann zog ich den Getränkeautomaten vor. Der Automat bewegte sich glatt und leicht und gab eine Geheimtür in der Wand dahinter frei. Ich musste lächeln. In der Londoner U-Bahn gibt es eine große Anzahl von Geheimtüren, viele davon verborgen hinter »Außer Betrieb«-Verkaufsautomaten. Für die Eingeweihten ist es ein geheimes Zeichen. Das ist der Grund, weshalb so viele dieser Automaten scheinbar ständig außer Betrieb sind. Die Türen führen zu allen möglichen interessanten Orten, und die breite Öffentlichkeit ist sehr viel besser dran, wenn sie nichts von ihnen weiß. Molly murmelte ein paar Worte zu der Geheimtür in der Wand, und sie schwang geräuschlos vor uns auf. Molly und ich schlüpften durch die Öffnung in die Dunkelheit dahinter, und die Tür schloss sich lautlos hinter uns.
Molly beschwor eine Hand voll Hexenfeuer, und das schimmernde silberne Licht sprühte und knisterte um ihre hochgehaltene Hand. Ein dunkler, dumpfiger Gang, dessen gewölbte Backsteinwände und niedrige Decke sich konstant abwärts neigten, verlief von uns weg. Mollys Hexenlicht konnte die Düsternis nicht weit durchdringen, und die Schatten waren sehr dunkel.
»Kriegst du wirklich nichts Besseres hin als dieses Glimmen?«, fragte ich.
»Doch, aber mehr bin ich nicht bereit zu riskieren. Das hier ist kein Ort, wo man übertriebene Aufmerksamkeit erregen möchte.«
»Wo genau gehen wir eigentlich hin? Sag mir bitte, dass wir nicht wieder in die Kanalisation hinuntersteigen!«
»Wir steigen nicht wieder in die Kanalisation hinunter.«
»Oh, welche Freude!«
»Du fängst an, mir auf den Geist zu gehen, Drood! Dieser Gang führt uns in die Anlagen unter dem U-Bahnnetz. Orte, die von der Eisenbahn verlassen und aufgegeben wurden. Alte Bahnhöfe, zu denen niemand mehr hingeht, eingestellte Linien, Schächte, die nie fertiggestellt wurden - die Art von Sachen.«
Ich nickte. Ich wusste, wo wir waren und wohin wir unterwegs waren; ich wollte Molly nur zeigen, dass ich wieder ich selbst war. Ich konnte das Dröhnen von Zügen hören, die gar nicht so weit von uns vorüberfuhren. Die Geräusche erstarben, während Molly und ich den abfallenden Tunnel hinunter in die Dunkelheit gingen.