Ohne mein Tempo im Geringsten zu verlangsamen, griff ich in meine Jacke und zog den Notfallkompass heraus, den der Waffenschmied mir im Herrenhaus gegeben hatte.
»Ich weiß, wo Norden ist«, sagte Molly, »und es hilft mir wirklich nicht weiter!«
»Dieser spezielle Kompass ist so konstruiert, dass er einem den besten Ausweg aus jeder Notlage zeigt«, erläuterte ich ihr, während ich versuchte, das Ding beim Laufen so ruhig wie möglich zu halten. Die Kompassnadel schnellte hin und her und blieb dann auf Nordost stehen, just als in dieser Richtung eine neue Tunnelöffnung auftauchte. Die Nadel bewegte sich und zeigte genau auf die Öffnung. »Hier entlang!«, sagte ich.
»Deine Familie hat immer die besten Spielsachen!«, meinte Molly, und ohne langsamer zu machen stürmten wir in den neuen Tunnel.
Wir liefen weiter, folgten der Nadel von Tunnel zu Tunnel. Das Jaulen und Heulen kam jetzt von allen Seiten. Der letzte Tunnel endete schließlich in einem natürlichen Steinraum samt Stalaktiten und Stalagmiten. Seltsame mineralische Linien in den Wänden fingen das Hexenfeuer auf, leuchteten hell und drängten die Dunkelheit zurück. Die Kompassnadel pendelte hin und her, als sei sie verwirrt, und ich machte stolpernd Halt, um darauf zu warten, dass sie zu einem Entschluss kam. Molly stützte sich auf mich und schnappte nach Luft; ich selbst war nicht viel besser dran. Mein Arm und meine Schulter brachten mich um.
»Wir stecken in Schwierigkeiten«, stellte Molly fest.
»Nein, wirklich?«, sagte ich. »Jetzt überraschst du mich aber! Zeig uns den Weg zum Maulwurf, du nutzloses Stück Scheiße!« Und ich gab dem Kompass ein paar Klapse, um ihm zu zeigen, dass ich es ernst meinte.
»Nein«, sagte Molly. »Ich meine, dass ich diesen Ort überhaupt nicht kenne. Ich bin auf keinem meiner früheren Abstecher zum Unterschlupf des Maulwurfs jemals hier gewesen. Bist du sicher, dass auf das Ding Verlass ist?«
»Na klar!«, log ich. Die Kompassnadel entschied sich endlich dazu, geradeaus zu zeigen. Ich sah Molly an. »Bereit, noch ein bisschen zu laufen?«
Sie rang sich ein schnelles Lächeln ab. »Ich stelle fest, dass die unmittelbare Aussicht, bei lebendigem Leib gefressen zu werden, wunderbar dazu beiträgt, dass man sich auf eine körperliche Aktivität konzentrieren kann.«
»Ich liebe es, wenn du dich gewählt ausdrückst!«, erwiderte ich.
Und in diesem Moment brach eine ganze Masse von Trollen aus einem Seitentunnel direkt hinter uns hervor, die sich in ihrer Begierde, uns zu erreichen, mit Zähnen und Klauen untereinander bekämpften. Molly und ich sprinteten wieder los in die Richtung, die uns die Nadel anzeigte, aber keiner von uns war mehr so schnell wie vorher. Ich hatte nur einen flüchtigen Blick auf die Trolle hinter uns erhascht, aber das war genug. Ich hatte früher schon Trollen gegenübergestanden, und sie hatten sich nicht verändert. Trolle sind gewaltige, gebeugt gehende Kreaturen von gelbweißer Farbe und langem, hoch aufgeschossenem Körperbau. Gezackte Krallen an knochigen Händen, bösartige Klauen an langen und dünnen Füßen. Aus ihren Rücken, Armen und Beinen ragen Knochensporne und -stacheln heraus. Ihre Köpfe sind lang, pferdeähnlich, mit Mäulern vollgepackt mit dicken, blockartigen Zähnen. Ihre Augen sind groß und schwarz und reglos. Sie laufen auf allen vieren und stützen sich dabei wie Menschenaffen auf den Knöcheln ab. Sie gaben sich nicht mehr mit Jaulen und Heulen ab, jetzt, wo sie ihre Beute gefunden hatten; stattdessen kamen von hinter uns dunkle, tiefe Hustlaute, drängend und hungrig.
Ich schaute nicht zurück. Ich wusste, wie schnell sie sich bewegen konnten. Und was sie tun würden, wenn sie uns fingen.
Sie waren nah, und sie kamen näher. Mein Atem brannte in meiner sich schnell hebenden und senkenden Brust, und mein schlimmer Arm und meine schlimme Schulter schrien vor Schmerz. Neben mir konnte ich Molly nach Luft schnappen hören. Wir wurden langsamer, obwohl wir wussten, dass das unseren Tod bedeutete. Also rüstete ich hoch, nahm Molly in meine starken goldenen Arme und spurtete mit übernatürlicher Geschwindigkeit durch die dunklen Tunnels. Molly hatte keine Luft, um über ein überraschtes Quieksen hinaus irgendwelche Einwände zu erheben, und dann klammerte sie sich fest an mich, als ich durch das Tunnellabyrinth raste. Sie hielt das Hexenfeuer vor uns hin, dessen Licht sich strahlend auf meiner goldenen Rüstung widerspiegelte.
Die Trolle konnten es zwar nicht mit meinem gesteigerten Tempo aufnehmen, aber sie gaben auch nicht auf. Noch immer konnte ich ihr Poltern hinter uns hören. Rissige Backsteinmauern zuckten an uns vorbei, als ich weiterraste, während ich mich auf die Nadel des Kompasses konzentrierte, der bündig in meiner goldenen Handfläche eingebettet lag. Plötzlich schrie Molly auf und zeigte auf eine Stelle vor uns, und ich blieb rutschend stehen. Molly entwand sich ungeduldig meinen Armen, als ich sie absetzte, und rannte zu einer Vertiefung in einer Steinmauer, die für mich genau wie alle anderen aussah.
»Das ist sie! Das ist die Stelle! Ich erkenne sie wieder … Die Tür ist genau hier, Eddie! Genau hier … irgendwo …«
Sie beugte sich dicht heran und fuhr mit den Händen über die raue Steinoberfläche. Ich konnte keine Tür erkennen. Ich drehte mich um und schaute den Weg zurück, den wir gekommen waren. Ich konnte keine Trolle sehen, aber ich konnte hören, wie sie aus der Dunkelheit auf uns zukamen. Sie hörten sich echt wütend an. Molly schrie erneut auf, und ich drehte mich wieder um und sah, wie sie die Umrisse einer Tür in dem dunklen, schmutzigen Stein nachzog.
»Das ist eindeutig die Tür! Führt direkt zum Maulwurf!«
»Dann möchtest du sie vielleicht öffnen?«, schlug ich vor. »Die Trolle werden jeden Moment hier sein.«
»Die kann ich nicht öffnen! Nur der Maulwurf kann sie öffnen!«
»Tritt zur Seite!«, forderte ich sie auf. »Ich werde sie einschlagen.«
»O nein, das wirst du verdammt noch mal nicht!«, sagte Molly, hielt mich an einem goldenen Arm fest und starrte direkt in meine Maske. »Der Maulwurf schätzt seine Ungestörtheit, und du kannst einen Batzen Geld darauf wetten, dass diese Tür durch Sicherheitsmaßnahmen geschützt ist, die alles andere als von Pappe sind! Du brauchst sie nur komisch anzugucken, und sie könnte diesen ganzen Abschnitt in die Luft jagen! Lass mich mit dem Maulwurf reden. Hier gibt es irgendwo eine Sprechanlage …«
Sie ging wieder zur Mauer. »Maulwurf! Hier ist Molly Metcalf; kennst du mich noch? Ich habe den kompletten Satz der Desperate Housewives-DVDs … Hör zu, bei mir ist der neue vogelfreie Drood, und wir müssen unbedingt reinkommen und mit dir reden! Sofort!«
Es gab eine besorgniserregend lange Pause. Die Trolle kamen näher. Ich konnte die Vibrationen ihrer wuchtigen Schritte durch den Steinboden spüren. Ich schloss den Kompass in meiner Rüstung weg und griff nach dem Repetiercolt. Die Trolle brachen aus der Tunnelöffnung hinter uns hervor und griffen mit langen, stachelbewehrten Armen nach uns. Molly schrie mir zu, die Augen zuzumachen, und ich drückte sie zu, gerade noch rechtzeitig, denn sie warf den Trollen den gleichen strahlenden Lichtschein entgegen, den sie auch im Bahnhof Paddington benutzt hatte. Die Trolle blieben schlagartig stehen und fielen übereinander, während sie in unerträglichen Schmerzen nach ihren geblendeten, lichtempfindlichen Augen griffen. Ich trat vor und tötete das erste halbe Dutzend mit meinen goldenen Fäusten, indem ich ihnen die schweren Schädel mit meinen gepanzerten Händen zerschmetterte. Ich schob die Leichen zurück in die Tunnelöffnung und errichtete eine Barrikade damit, um die anderen Trolle aufzuhalten. Die Übrigen drückten heftig von der anderen Seite, und ich und meine goldene Rüstung hatten alle Hände voll zu tun, sie zurückzuhalten.
»Eddie! Die Tür ist auf! Komm!«
Ich drehte mich um und rannte auf die schmale, dunkle Öffnung in der Mauer zu. Molly war schon drin; sie zog mich hinein und schlug dann den Trollen die Tür vor der Nase zu, direkt hinter mir. Die Tür machte äußerlich nicht viel her, aber sie hielt stand, ungeachtet des Hämmerns wuchtiger Fäuste von außen. Die Trolle jaulten und heulten und schlugen in frustrierter Wut gegen die geschlossene Tür.