»Sollten wir uns auf eine Explosion gefasst machen?«, fragte ich Molly.
»Der Maulwurf weiß jetzt, was los ist«, antwortete sie außer Atem. »Er erwartet uns. Eddie, sei nett zu ihm! Er ist keine Besucher gewohnt.«
Ich folgte Molly durch den engen Tunnel, der von nackten elektrischen Glühbirnen erleuchtet wurde, die in regelmäßigen Abständen von der Decke hingen. Widerwillig rüstete ich ab. Da er selbst ein Vogelfreier war, würde der Maulwurf wohl als Allerletztes einen Drood in voller Rüstung direkt auf sich zukommen sehen wollen. Es war ein gutes Gefühl, nicht mehr zu rennen und wieder zu Atem zu kommen. Ich massierte meinen schmerzenden linken Arm. Aber es half nichts, also schob ich den Schmerz so weit weg, wie ich konnte. Ich hatte an Wichtigeres zu denken. Wenn der Maulwurf genauso verrückt wie der Seltsame John war, dann würde man behutsam mit ihm umgehen müssen.
Die Tunnelwände waren mit überlappenden Schichten mehrfarbiger Elektrokabel behangen, die mit Verteilerkästen und einem ganzen Haufen Technologie durchsetzt waren, die mich vor ein völliges Rätsel stellte. Schwenkbare Überwachungskameras behielten Molly und mich im Auge, als wir den Tunnel hinuntergingen, und ich gab mir alle Mühe, freundlich und auf eindeutig nicht bedrohliche Art hineinzulächeln.
»Du bist doch schon mal hier gewesen«, sagte ich zu Molly. »Wie sieht es bei ihm zu Hause denn so aus?«
»Tja«, antwortete sie, wobei sie meinen Blick geflissentlich mied. »Eigentlich bin ich noch nie hier gewesen. Nicht persönlich, heißt das. Tatsächlich kenne ich niemanden, der schon mal hier gewesen wäre. Du solltest dich sehr geschmeichelt fühlen, dass er uns hereingelassen hat; normalerweise duldet der Maulwurf keine Besucher. Genau genommen neigt er dazu, sie abzuschrecken, indem er jeden umbringt, der hier aufkreuzt.«
»Jetzt mach aber mal halblang!«, sagte ich. »Willst du damit sagen, dass ein echtes Risiko bestand, dass er diese Tür für uns nicht aufmacht? Dass es durchaus hätte sein können, dass er uns da draußen verrecken lässt?«
»Na ja, möglich wäre das schon gewesen. Aber ich war mir ziemlich sicher, dass er so neugierig auf dich wäre, dass er uns hereinlässt. Außerdem mag er mich irgendwie.«
»Er mag dich!«
»Nein, ich meine, er mag mich.«
»Wie, wenn du noch nie hier warst?«
»Oh, ich war schon viele Male in seinem Unterschlupf, nur nicht leibhaftig. Ich bin ein Dutzend Mal hierher traumgewandert - astrales Reisen. Daher habe ich auch den Weg gekannt. Und wir telefonieren viel miteinander. Er kann sehr redselig sein, solange man die gebührende Distanz wahrt. Ich war mir wirklich ziemlich sicher, dass er uns reinlassen würde.«
»Weil er dich mag.«
»Genau. Ich erweise ihm Gefälligkeiten …«
»Fast habe ich Angst zu fragen: Welche Art von Gefälligkeiten?«
»Ich suche für ihn diese fragwürdigen Pornosites im Internet …«
»Ich hatte recht. Ich wollte es gar nicht wissen.«
Unvermittelt öffnete sich der Tunnel in eine riesige Höhle, die aus dem Gestein tief unter London gehauen worden war. Sie war gewaltig, beinah überwältigend in ihren Ausmaßen, aber der Maulwurf hatte offenbar viel Zeit gehabt, es sich gemütlich zu machen. Die große, offene Bodenfläche war vollgestopft mit jedem modernen Haushaltsgerät, jedem erdenklichen Luxus und Komfort, dazu Berge von Computerausrüstung. Riesige Plasmabildschirme bedeckten die Wände und zeigten bei abgestelltem Ton fünfzig verschiedene Ansichten gleichzeitig. Und in jedem Zwischenraum und an jeder freien Stelle waren Computermonitore, die Dutzende verschiedener Sites auf einmal zeigten. Molly führte mich durch das Apparaturengewirr ins Zentrum der Höhle des Maulwurfs, und dort, genau im Herzen des Labyrinths, saß der Maulwurf persönlich in einem großen, leuchtend roten Lederdrehstuhl. Bis zum allerletzten Moment hielt er uns den Rücken zugewandt, und dann ließ er den Stuhl widerstrebend herumschwingen und starrte uns an. Er hob eine Hand und bedeutete uns, nicht näher zu kommen, und wir blieben in gut drei Meter Entfernung stehen. Er musterte uns von Kopf bis Fuß und machte keinerlei Anstalten, sich von seinem Stuhl zu erheben und uns zu begrüßen.
Ich hatte erwartet, einen untersetzten kleinen Kerl mit blinzelnden Augen hinter einer riesigen Brille anzutreffen, und genau das war der Maulwurf. Er war sehr blass, mit langen, lose fallenden Haaren um ein dickliches Gesicht, in dem es ziemlich viel blinzelte und zuckte. Er trug Bermudashorts, schmuddelige Trainingsschuhe und ein T-Shirt mit dem Aufdruck Tarzan, Herr der Kleidermuffel. Er trug auch einen buddhistischen Talisman an einer Kette um den Hals: das allsehende Auge. Und darüber den goldenen Halsreif der Droods. Eine plumpe Hand kam hoch und berührte ihn, als er mich und den Torques um meinen Hals ansah, und endlich entspannte er sich ein wenig. Er lächelte mich kurz an und nickte Molly zu.
»Hallo, meine Liebe. Es ist so schön, dich wiederzusehen! Und endlich in Person! Ja. Aber bitte, alle beide, kommt nicht näher! Ich bin nicht mehr an Gesellschaft gewöhnt. Nein. Nein. Hallo, Edwin. Mit-Drood, Mit-Vogelfreier. Ja. Normalerweise dulde ich keine Besucher; sie regen mich zu sehr auf. Aber wenn ich einem Mit-Vogelfreien nicht trauen kann … Also, willkommen in meiner Höhle, Edwin, Molly!
Ja.«
»Hübscher Stuhl«, sagte ich, weil mir nichts anderes Höfliches und Nichtbedrohliches einfiel.
»Ja, das ist er, nicht wahr?«, sagte der Maulwurf, und sein Gesicht erhellte sich ein bisschen. »Habe ihn extra bestellt. Durch eine ganze Reihe von Sicherungen. Ich muss sehr vorsichtig sein! In den Armlehnen sind Kühlbehälter für Erfrischungsgetränke. Möchtest du eins?«
»Im Moment nicht«, lehnte ich dankend ab.
»Gut, denn im Moment bin ich gerade ein bisschen knapp dran damit. Ich muss eine neue Bestellung aufgeben. Ja. Ich habe sehr gute Leute, die alle möglichen Sachen für mich hier runterschmuggeln, gegen Entgelt, aber es ist natürlich nicht leicht, Sachen geliefert zu bekommen. Nein. Nein. Ich muss … umsichtig sein. Bei allem. Ich bin hier sicher, geschützt, und ich habe vor, sicher zu bleiben. Abgeschnitten von der Welt. Es ist ja schließlich nicht nur die Familie, die meinen Tod will. O nein!«
»Tatsächlich?«, fragte ich. »Wer ist sonst noch hinter dir her?«
»So ziemlich jeder«, meinte der Maulwurf traurig. »Weißt du, ich kenne so viele Geheimnisse. So viele Sachen, von denen manche Leute nicht wollen, dass andere Leute sie erfahren. Oh, die Sachen, die ich weiß! Du würdest dich wundern! Wirklich. Ja.«
»Wo nimmst du den Strom für die ganzen Geräte her?«, fragte ich mit echter Neugier.
Der Maulwurf zuckte mit den Achseln. »Alle Energie, die ich brauche, zapfe ich von der U-Bahn ab. Und von der Stadt. Sie merken es nicht. Ich habe Strom, Gas und Wasser hier unten, und ich habe noch nie eine Rechnung bezahlt. Obwohl ich könnte, wenn ich wollte. Ich bin wirklich ganz erstaunlich wohlhabend. Oh, ja. So, Edwin; du bist also der neue Vogelfreie! Lass dich anschauen … Ich kenne dich natürlich vom Hörensagen. Der einzige Frontagent, der es geschafft hat, sich die Familie beinah zehn Jahre lang vom Leib zu halten. Unerhört! Ich wusste immer, dass es nicht von Dauer sein würde … Die Familie traut niemandem oder nichts, was sie nicht kontrollieren kann. Ich war übrigens früher Malcolm Drood.«
Er sagte diesen Namen, als ob er erwartete, dass ich ihn wiedererkennen würde, aber das tat ich nicht. Wir sind eine große Familie. Er betrachtete gespannt mein Gesicht, dann runzelte er die Stirn und zog eine Schnute, als er merkte, dass der Name mir nichts sagte.
»So, ich bin also aus der offiziellen Familiengeschichte gelöscht worden. Gestrichen. Das hatte ich mir schon gedacht. Inzwischen bist du bestimmt auch gelöscht worden, Edwin. Soweit es die kommenden Generationen der Familie betrifft, wirst du nie existiert haben. Deine ganze Geschichte - weg, o ja. Alles, was du jemals für die Familie getan hast, all deine Kämpfe und Erfolge und Errungenschaften, sie werden aufgeteilt und anderen zugeschrieben werden. Agenten, die sich noch der Familienlinie unterwerfen und vor der Familienautorität kuschen. Das meiste davon wird vermutlich Matthew zufallen. Er hat schon immer zum harten Kern der Familie gehört, das humorlose kleine Arschloch. Er wird immer ein guter kleiner Soldat sein … Nicht wie wir, was, Edwin? Wir haben unseren eigenen Kopf. Unsere eigene Seele. Ja. Ja!«