»Können sie das wirklich machen?«, wollte Molly von mir wissen. »Dich einfach aus der Familiengeschichte herausschreiben, als ob du nie existiert hättest?«
»Na klar!«, bekräftigte der Maulwurf. »So war es schon immer, wie von den höheren Familienchargen beschlossen. Von denen ich einmal ein geschätztes Mitglied war.«
»Was genau machst du eigentlich hier unten?«, fragte ich ihn freiheraus. »Und was, falls überhaupt, kannst du tun, um mir zu helfen?«
Er blinzelte und guckte mich eine Weile lang an, nicht gewohnt, in seinem eigenen privaten Königreich so unverblümt herausgefordert zu werden. Eine Hand ging zu den Fernbedienungen, die in seine Armlehne eingelassen waren, und dann zog er die Hand wieder weg. Er lächelte erst mich nervös an und dann Molly. Sie schenkte ihm ihr bestes freundliches, ermutigendes Lächeln, und er beruhigte sich etwas.
»Ich beobachte die Welt«, erklärte der Maulwurf ein kleines bisschen selbstgefällig. Er drehte sich in seinem Stuhl hin und her und zeigte mit einer fleischigen Hand auf die vielen Bildschirme. »Hier unten kann ich alles sehen, was passiert, oder zumindest alles von Bedeutung. Ihr würdet nicht glauben, an welchen Orten ich überall versteckte Kameras habe! Ich spioniere, höre ab, und ich mache Notizen. Wenn ihr wüsstet, was Bill Gates als Nächstes vorhat, würdet ihr euch vor Angst in die Hosen machen. Ja. Ja … Ich lebe vom Internet, wisst ihr? Studiere Verschwörungstheorien, suche nach Beweisen für die Arbeit unserer Familie, und dann gebe ich die Informationen an denjenigen weiter, von dem ich glaube, dass er den besten Gebrauch davon machen wird, wer das auch sein mag. Wo immer sie am nützlichsten sind - oder am schädlichsten für die Familie.« Er sah mich sehr ernst an. »Unsere Familie muss aufgehalten werden, Edwin. Zerbrochen, erniedrigt, gestürzt. Für alles, was dir und mir und allen anderen wie uns angetan wurde! Und ich gehöre hundert verschiedenen subversiven Organisationen unter hundert verschiedenen Identitäten an. Oh, ja! Nichts geschieht, nichts wird geplant, ohne dass ich vorher davon erfahre. Ich muss alles wissen, um mir einen Reim darauf machen zu können, was in der Welt passiert. Ja … eine schwierige Arbeit. Eine endlose Arbeit … Aber jemand muss sie machen.«
»Gehörst du vielleicht zufällig zu einer Gruppierung, die sich Manifestes Schicksal nennt?«, fragte Molly.
»Selbstverständlich! Paranoid, fremdenfeindlich und definitiv Sklaven des Persönlichkeitskults - und ausgesprochen schlampig, wenn es um Operationen an der Front geht … Aber ursprünglich hatte ich große Hoffnungen in sie. Ich meine, ja, sie waren und sind in vielerlei Hinsicht völlige und ausgesprochene Scheißkerle, aber immerhin haben sie eine Organisation, die dazu fähig scheint, es mit den Droods aufzunehmen. Ich unterstütze sie aus der Ferne und versuche sie zu mehr praktischer Betätigung zu ermutigen, weil ich finde, dass jeder, der sich der Familie widersetzt, Unterstützung verdient. Ja. Möchtet ihr den Kampf sehen, der gerade in den Straßen über uns zwischen ihren Leuten und den Drood-Frontagenten stattfindet?«
»Der läuft immer noch?«, staunte Molly.
»O ja. Das Manifeste Schicksal wirft den Drood-Agenten alles, was es hat, entgegen. Die armen Narren! Durch direkten Konflikt wird man die Familie niemals stürzen. Nein. Nein …«
»Zeig es mir!«, sagte ich.
Der Maulwurf betätigte die Fernbedienungen in seiner Armlehne, und der größte Plasmabildschirm vor uns zeigte plötzlich ein neues Bild: Truppen des Manifesten Schicksals, die unter freiem Himmel drei golden gerüstete Gestalten angriffen. Die Tiefe und Auflösung des Bilds samt Raumklang waren hervorragend; es war, wie selbst im dichtesten Kampfgetümmel zu stehen. Ich konnte das Blut und den Rauch beinah riechen. Truman musste eine halbe Armee ausgeschickt haben, um die Drood-Frontagenten zu erlegen, die ihm zu trotzen wagten; viel genutzt hatte es ihm nicht. Panzerkampfwagen, mechanisierte Infanterie, Kampfhubschrauber, die Feuer von oben herabregnen ließen … Die Straße war voll dichtem, schwarzem Qualm, der von brennenden Gebäuden und ausgebrannten Panzerfahrzeugen stammte, doch die drei goldenen Gestalten bewegten sich ungerührt mitten hindurch.
Sie preschten mit übernatürlich schnellen Bewegungen durch die vorrückenden Soldaten, töteten mit einer Berührung und gingen weiter. Überall auf der Straße stapelten sich die Toten und die Sterbenden. Mit einem einzigen Ruck warfen die goldenen Gestalten Autos um, während sie unversehrt durch einen Hagel von Geschossen und Explosionen schritten. Ein schwarzer Hubschrauber griff im Tiefflug mit Bordwaffen an, und eine goldene Gestalt sprang senkrecht in die Luft, angetrieben durch die Kraft in ihren goldenen Beinen, klammerte sich an die Seite des Hubschraubers, riss mit einer Hand die Tür ab und verschwand in seinem Inneren. Einer nach dem anderen wurde die Besatzung herausgeworfen und stürzte schreiend in den Tod. Der Agent blieb gerade lang genug an Bord, um den abstürzenden Hubschrauber auf ein Panzerfahrzeug zu lenken, und sprang im letzten Moment ab; er landete mühelos und elegant, während seine gepanzerten Beine den Aufprall schluckten. Das Manifeste Schicksal hatte allen Vorteil moderner Kriegsführung auf seiner Seite, aber es nutzte ihm nicht das Geringste gegen drei Drood-Frontagenten.
So wenige gegen so viele standhalten zu sehen, machte mich fast stolz, ein Drood zu sein. Fast.
»Der Letzte muss Matthew gewesen sein«, meinte der Maulwurf. »War schon immer ein Angeber.«
»Wie zum Teufel wollen sie das vertuschen?«, fragte Molly, die fasziniert auf das Gemetzel starrte. »So viel Tod und Zerstörung, ein Kriegsgebiet mitten in London?«
»Siehst du irgendwelche Medienleute?«, fragte der Maulwurf. »Irgendwelche Fernsehteams oder Pressefotografen? Auch nur Paparazzi? Siehst du nicht. Wenn es heutzutage nicht im Fernsehen kommt oder in der Boulevardpresse steht, dann ist es nicht passiert. Sämtlichen Zeugen in der Zivilbevölkerung wird man die Erinnerung verändern, alle CCTV-Aufnahmen werden verschwinden, und den Schaden wird man denjenigen Terroristen unterschieben, die gerade die Buhmänner sind. Vielleicht wird auch eine Gasexplosion dafür verantwortlich gemacht. Oder ein Flugzeug, das vom Himmel gefallen ist. Wofür die Familie sich eben entscheidet. Ja. Oh, Geschichten werden nach außen dringen, das tun sie immer. Das Internet liebt seine modernen Legenden so sehr! Aber die Wahrheit wird niemand je erfahren. Die Familie hat viel Übung darin, die Wahrheit zu begraben. O ja.«
»Wie kommt es, dass wir es sehen?«, wollte ich wissen. »Wenn da draußen keine Kamerateams sind …?«
»Ich habe Kameras überall, schon vergessen?«, entgegnete der Maulwurf mit stolzem Blinzeln. »Ich kann jede CCTV-Erfassung anzapfen, jedes beliebige Sicherheitssystem, obendrein haben meine Leute noch einen ganzen Haufen verschiedenartiger Überwachungstechnologie an unauffälligen Stellen platziert. Ich habe Augen und Ohren in jeder größeren Stadt auf der Welt. Außerdem in all den kleineren Orten, von deren Wichtigkeit die Welt nichts ahnt. Wenngleich ich immer noch Schwierigkeiten habe, in Area 53 zu kommen … Aber in London passiert nichts, wovon ich nicht früher oder später erfahre. O nein … Ich wusste, dass ihr hierherkommen würdet, um nach mir zu suchen, noch bevor ihr es wusstet. O ja! Ich hatte jede Menge Zeit, darüber nachzudenken, ob ich dich hier reinlassen sollte, Edwin. Es hat dir geholfen, dass du Molly mitgebracht hast. Ein Doppelagent hätte sich nie im Leben mit der berüchtigten Molly Metcalf zusammengetan.«