»Guter Gott!«, sagte ich.
»Oh, das ist noch gar nichts!«, fuhr der Maulwurf fort und beugte sich eifrig in seinem Stuhl nach vorn. »Gar nichts, verglichen mit manchen Sachen, die ich herausgefunden habe! Die Familiengeschichte, mit der du und ich groß geworden sind, zeichnet nur die offizielle Version der Ereignisse auf, nicht die Fehlschläge oder das, was verpatzt wurde, oder die geheimen Geschäfte, die entsetzlich schiefgelaufen sind!« Der Maulwurf hielt inne und dachte nach. »Ich muss sagen, ich glaube immer noch, dass das meiste, was man uns gelehrt hat, wahr war … alles in allem … aber man muss es in den richtigen Zusammenhang dessen setzen, wozu alles am Ende diente.«
»Dass wir die geheimen Herrscher der Welt sein konnten«, führte ich seinen Gedanken fort.
»Ja. Manchmal frage ich mich … ob es vielleicht einen anderen Zusammenhang gibt, über diesen hinaus, von dem ich noch nichts weiß. Irgendein ganz geheimer Grund, weshalb wir die geheimen Herrscher der Welt sein müssen, zum Wohle aller. Ich möchte es gern glauben. Ja.«
»Hast du irgendwelche Beweise dafür gefunden?«, fragte ich.
»Nein«, meinte der Maulwurf traurig. »Wenn ich doch nur Zugriff auf die Familienbibliothek hätte! All die verbotenen Bände und geheimen Bücher! Die ganze wahre Geschichte der Drood-Familie erfahren … Aber nicht einmal mit meinen Hilfsmitteln kann ich mich in die Drood-Bibliothek einhacken. Nein. Deshalb haben sie auch immer alles auf Papier bewahrt, wegen Leuten wie mir. Und natürlich ist es mir nie gelungen, auch nur eine einzige Überwachungskamera ins Herrenhaus zu schmuggeln. Nein! Nein …«
»Dann kannst mir also nichts darüber erzählen, warum ich geächtet worden bin?«, blieb ich hartnäckig.
»Etwas musst du wissen«, sagte der Maulwurf scharf: »Es ist immer zu viel Wissen, was einen für die Droods wirklich gefährlich macht. Dinge wissen, von denen sie nicht wollen, dass jemand anders sie weiß. Geheimnisse, die innerhalb ihres feinen inneren Zirkels bleiben müssen. Die Matriarchin, ihr Rat, ihre Günstlinge … Diejenigen, die wirklich die Welt leiten.«
»Aber ich weiß doch gar nichts!«, sagte ich und konnte die Verzweiflung in meiner Stimme hören.
»Das denken sie aber«, erwiderte der Maulwurf schlicht.
Wir blickten uns beide scharf um, als plötzlich laute Musik durch die Kaverne schallte. Anscheinend war Molly langweilig geworden und sie war allein losgezogen, während der Maulwurf und ich über Familiengeschichte diskutiert hatten. Auf einem der Bildschirme hatte sie MTV entdeckt und die Lautstärke hochgedreht. She Bangs von Ricky Martin erfüllte die Luft, dass die laute Salsa von den Steinwänden widerhallte. Und Molly tanzte lustvoll zur Musik, stampfte auf und schüttelte den Kopf und ließ ihr langes Kleid um sich wirbeln. Der Maulwurf und ich sahen beide zu, wie die wilde Hexe zur Musik tanzte, zu hingerissen, um zu protestieren. Es war ein gutes Gefühl, einen solchen Moment glücklicher Unschuld inmitten so düsterer Diskussionen zu erleben. Molly begriff, dass das Leben zum Leben da war und zum Leben im Augenblick. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte ich mich vielleicht zu ihr gesellt und mit ihr getanzt, aber allein der Gedanke ließ die Schmerzen in meinem wehen Arm noch heftiger werden.
Schließlich war das Lied zu Ende, und der Maulwurf betätigte seine Fernbedienung und drehte die nächste Nummer ab. Molly tanzte noch einen Moment lang weiter und kam dann wieder zu uns zurück. Ihr Gesicht war gerötet und ihre Augen strahlten glücklich.
»Spielverderber!«, sagte sie fröhlich zum Maulwurf und beugte sich tatsächlich zu ihm hinüber, um ihn auf die Wange zu küssen. Der Maulwurf lief feuerrot an. Molly blickte mich an.
»Sind wir hier fertig, Eddie?«
»So gut wie«, antwortete ich. Ich wandte mich wieder an den Maulwurf. »Was weißt du über fremde Materie?«
»Ah!«, sagte der Maulwurf. »Ja, ja! Ich habe von dem Pfeil des Elbenlords gehört! Er hat wirklich deine Rüstung durchschlagen? Interessant … Das war, nun ja, ich will nicht sagen noch nie da gewesen - es gibt Geschichten -, aber das ist der erste bestätigte Fall, der mir jemals untergekommen ist. Mit Bestimmtheit kann ich dir nur sagen, dass fremde Materie aus einer anderen Dimension der Realität kommt, wo es feine Unterschiede in den Gesetzen der Physik gibt. Sodass Sachen, die hier niemals auf natürlichem Wege entstehen könnten, dort möglich sind. Wie fremde Materie mit ihren verblüffend unnatürlichen Eigenschaften.«
»Sie steckt in mir drin«, sagte ich. »Vergiftet mich. Tötet mich. Gibt es ein Heilmittel, ein Gegengift? Etwas, womit ich sie aus meinem Körper austreiben könnte?«
»Ich weiß es nicht«, antwortet der Maulwurf, und ich konnte sehen, dass ihm dieses Eingeständnis wehtat. »Dazu müsste ich genau wissen, wo sie herkam. Nur der Elbenlord könnte uns das sagen, und Elben reden mit niemandem, der kein Elb ist. Ich habe ein paar indirekte Kontakte … Ja. Gib mir ein paar Wochen, und ich könnte etwas für dich in Erfahrung bringen.«
»Ich habe keine paar Wochen«, erklärte ich ihm. »Und allmählich denke ich, dass der einzige Ort, wo mir geholfen werden könnte, der einzige Ort mit den Antworten, die ich brauche, die Bibliothek daheim im Herrenhaus ist.«
»Sie werden dir nicht helfen«, sagte der Maulwurf.
Ich lächelte unfreundlich. Es war ein gutes Gefühl. »Ich hatte nicht vor, sie zu fragen«, erwiderte ich. »Ich dachte eher daran, ins Herrenhaus einzubrechen, die Bibliothek zu durchwühlen und mir zu nehmen, was ich so verdammt dringend brauche. Und falls damit zufällig verbunden sein sollte, ein paar Antworten aus diversen Personen herauszuprügeln, wie beispielsweise aus Großmutters geliebtem Gatten, so wäre das ein gefälliger Bonus.«
»Na, das hört sich doch schon besser an!«, freute sich Molly und klatschte ausgelassen in die Hände. »Hardcore, Eddie! Seit Generationen hat es niemand mehr gewagt, ins Herrenhaus einzubrechen! Lass mich mitkommen! O bitte; ich verspreche dir auch, dass ich eine richtige Sauerei bei euch anstellen werde!«
»Edwin, nein, denk nicht mal dran!«, sagte der Maulwurf eindringlich. »Du weißt, von welchen Sicherheitsmaßnahmen das Herrenhaus geschützt wird. All die schrecklichen Wesen und Mächte, auf die sich unsere Familie verlässt, um ihre Ungestörtheit zu sichern. Sämtliche Passwörter, die du vielleicht gekannt hast, sind mittlerweile mit Sicherheit ausgetauscht worden. Du willst doch nicht als eine der Vogelscheuchen enden, oder?«
»Augenblick mal; die sind echt?«, warf Molly ein. »Ich dachte, das seien bloß Geschichten, um die Leute abzuschrecken.«
»Sie sind echt«, bestätigte ich. »Ich habe sie schreien hören. Meine Familie ist tatsächlich ungebetenen Gästen gegenüber so bösartig und rachsüchtig, wie alle Geschichten behaupten.« Ich blickte den Maulwurf an. »Du weißt wahrscheinlich mehr über die Verteidigungsanlagen des Herrenhauses als jeder andere, der nicht gerade ein Insider ist. Wenn du mit uns kommen würdest …«
»Nein! Nein. Das kann ich nicht!«
»Nicht einmal für eine Chance, es den Leuten heimzuzahlen, die dein Leben zerstört haben?«
»Du begreifst nicht«, sagte der gebrochene Mann, der früher einmal Malcolm Drood gewesen war. »Ich habe diesen Ort nicht mehr verlassen, seit ich das erste Mal hierhergekommen bin. Vor all den Jahren … Das hier ist der einzige Ort, an dem ich mich noch sicher fühle. Allein der Gedanke, ihn zu verlassen … ist mehr, als ich ertragen kann. Ihr seid die ersten leibhaftigen Besucher, denen ich Zutritt gewährt habe, seit ich zum ersten Mal die Tür hinter mir zugemacht und mich von der Welt abgeschottet habe.« Er rang sich ein kleines Lächeln ab. »Ihr solltet euch geehrt fühlen.«
»Keine Gesellschaft - niemals?«, fragte Molly. »Ich habe Gerüchte gehört, aber ich hätte nie tatsächlich gedacht … Wie hältst du das aus?«