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»Die Familie kommt an erster Stelle, Edwin; das weißt du.« Die Stimme der Matriarchin war ruhig und gelassen. »Ich werde immer tun, was notwendig ist, um die Familie zu beschützen. Und alles, was du tun musstest, war zu sterben, und nicht einmal das hast du richtig hingekriegt, nicht wahr?«

»Ich wäre für dich gestorben, für die Familie«, sagte ich und hielt den Hörer so fest, dass meine Hand schmerzte. »Wenn du mir einen guten Grund gegeben hättest, wenn du mir nur genug vertraut hättest, um es mir zu erklären. Ich liebe die Familie, auf meine eigene Weise. Aber nicht mehr. Du hast mich zum Vogelfreien gemacht, und ein Vogelfreier will ich sein.«

»Warum hast du angerufen, Edwin? Was willst du?«

»Dir von Sebastian erzählen. Der augenblicklich sehr bewusstlos in seiner Wohnung liegt. Wenn du ein paar Leute herschicken würdest, könnten sie ihn einsammeln, solange er bewusstlos ist. Und dann bräuchtest du dir keine Sorgen mehr zu machen über die ganzen Informationspäckchen, die er über euren Häuptern schweben lässt. Du siehst, meinen Krieg führe ich mit dir, Großmutter, nicht mit der Familie.«

»Ich bin die Familie. Ich bin die Matriarchin.«

»Nicht mehr lange«, sagte ich. »Ich habe all deine widerlichen kleinen Geheimnisse ans Tageslicht gebracht, und ich bin wirklich sehr böse auf dich, Großmutter. Wegen dem, was im Namen der Familie getan worden ist. Ich werde nach Hause kommen, und das nicht als der verlorene Sohn. Ich werde nach Hause kommen für die Wahrheit, auch wenn ich die Familie auseinanderreißen muss, um sie zu bekommen. Bis bald, Großmutter!«

Ich hing auf und stand dann einen Moment lang einfach nur da. Meine Hände zitterten. Hätte ich nicht schon gewusst, dass ich sterben würde, so hätte ich jetzt wahrscheinlich Angst gehabt. Ich sah mich nach Molly und Janitscharen-Jane um: Es war ihnen gerade erst eingefallen, den Hosenhaufen der bewusstlosen Soldaten nach den Autoschlüsseln zu durchsuchen.

»Zeit, in die Gänge zu kommen, Ladys! Die Familie wird bald hier sein.«

»In Ordnung«, sagte Molly. »Ich denke, wir haben hier in etwa so viel Schaden angerichtet, wie wir können.«

* * *

Janitscharen-Jane fuhr den großen schwarzen Wagen durch die Straßen Londons, weil sie den Weg wusste und weil sie die Autoschlüssel hatte und sich weigerte, sie herzugeben. Molly saß mit mir auf dem Rücksitz, die Arme fest verschränkt, und schmollte. Sie fühlte sich immer unbehaglich, wenn sie nicht der Chef war. Janitscharen-Jane fuhr viel zu schnell und ständig aggressiv - um unsere Tarnung nicht auffliegen zu lassen, sagte sie -, aber schließlich kamen wir in Wimbledon an und waren alle immer noch an einem Stück. Die meisten Leute verbinden mit dem Namen nur Tennis, aber heutzutage besteht die Bevölkerung in dieser Gegend zu achtzig Prozent aus Einwanderern, die ein florierendes Kleinbetriebswesen aufgebaut haben. Farbenfrohe Plakate in den Schaufenstern priesen ungewöhnliche Produkte auf Hindi und Urdu an, und hier und da wirbelten blauhäutige Nautch-Tänzerinnen zu elektrischer Sitarmusik die Straße entlang. Unser schwarzer Wagen mit seinen getönten Scheiben zog viele kühle und nachdenkliche Blicke auf sich, als wir ruhig durch die engen Straßen fuhren. Irgendwann hielt Janitscharen-Jane vor einem unscheinbaren Schnapsladen an, die Art von Laden, die immer geöffnet hat, rund um die Uhr, und wo immer gerade ein Ausverkauf stattfindet. Wir stiegen aus dem Wagen aus, und Molly und ich schauten Janitscharen-Jane fragend an.

»Der blaue Elf hat eine Wohnung hier, über dem Laden«, klärte sie uns auf. »Macht euch auf was gefasst! Er ist zurzeit nicht übertrieben ordentlich. Und wir müssen durch den Laden gehen, um zur Wohnung zu kommen, also vergesst nicht, wir sind hier, um Mr. Blue zu besuchen!«

»Wieso … hier?«, fragte ich.

»Würdest du hier nach ihm suchen?«, erwiderte Janitscharen-Jane, und ich musste nicken. Da war was dran!

Janitscharen-Jane ging voran in den Spirituosenladen. Die Wände waren vom Boden bis zur Decke vollgestapelt mit allen Arten von Alkohol unter der Sonne; auf vielen Flaschen und Dosen prangten Markennamen, die mir noch nie untergekommen waren. Der Pakistani mittleren Alters hinter dem Tresen grüßte uns fröhlich und nickte schnell, als er hörte, dass wir zu Mr. Blue wollten.

»Selbstverständlich, aber sicher! Hallo, Miss Jane; ich freue mich sehr, Sie mal wieder zu sehen! Mr. Blue ist tatsächlich oben und zu Hause; gehen Sie einfach hoch! Er ruht sich gerade aus, glaube ich; er ist gesundheitlich nicht ganz auf dem Posten. Ich bin sicher, es wird ihm guttun, ein bisschen freundliche Gesellschaft zu haben!«

Er führte uns, immer noch lächelnd, in den hinteren Teil des Ladens. Wir stiegen ein paar schwach erleuchtete Stufen ins nächste Stockwerk hoch und fanden eine Tür mit dem richtigen Namen neben einem Klingelknopf. Die Tür stand ein Stück weit offen. Kein gutes Zeichen. Ich zog meinen Repetiercolt, Janitscharen-Jane zog ihre beiden Faustdolche, und Molly ließ ihr Hexenmesser aus dem Nichts erscheinen. Ich bedeutete Janitscharen-Jane und Molly, dicht hinter mir zu bleiben. Sie ignorierten mich und drängten sich stumm vor, und ich seufzte innerlich. Langsam schob Janitscharen-Jane die Tür auf; sie öffnete sich geräuschlos. Der Raum dahinter war dunkel und schattenhaft, obwohl es noch Nachmittag war. Einer nach dem anderen schlüpften wir in das Zimmer, aufs Schlimmste gefasst, aber nichts hätte uns auf das vorbereiten können, was wir vorfanden.

Der Raum war ein einziges Durcheinander. Ein richtiges Durcheinander. Die Art von Durcheinander, an der man arbeiten muss. Mein erster Gedanke war, dass das Wohnzimmer von Profis auf der Suche nach irgendwas auf den Kopf gestellt worden war, aber schnell wurde klar, dass kein professioneller Agent, der etwas auf sich hielt, sich die Hände mit dem Dreck besudeln würde, der hier überall herrschte. Auf den meisten Flächen kämpften Schmutz und Unrat um die Vorherrschaft, was vom Teppich zu sehen war, war mit Flecken in einem Dutzend Farben besudelt, und auf dem Fußboden bildeten Schutt und Abfall eine Schicht, die so dick war, dass wir uns mit Tritten hindurchkämpfen mussten. In einer Ecke waren alte Kleider zu einem Haufen angewachsen, möglicherweise zum Waschen, wahrscheinlicher aber zum Verbrennen, und Essensverpackungen diverser Restaurants klebten hartnäckig zusammen. Etwas knirschte nass unter meinem Fuß, und ich hoffte aufrichtig, dass es nur eine Kakerlake war. Die Vorhänge waren nicht zugezogen, aber die Fensterscheiben waren dermaßen mit Dreck verschmiert, dass das Nachmittagslicht sich den Weg hindurchkämpfen musste.

Auf jeder Oberfläche standen leere Flaschen, die meisten von India Pale Ale und Bombay Gin. Es gab auch Pillenfläschchen, und zwar nicht die Sorte, die man auf Rezept bekommt. Zerknitterte Alufolie zum Heroinspritzen. Und ein halbes Dutzend Spritzen und daneben ein Feuerzeug zum Sterilisieren der Nadeln. Das Einzige, was darauf noch kommen konnte, war, in einem Pappkarton am Charing Cross Embankment Brennspiritus direkt aus der Flasche zu trinken - vorausgesetzt, der Blaue Elf lebte so lange.

Wir bewegten uns durch das Zimmer, so leise wir konnten. Keine Anzeichen für irgendwelche bösen Jungs, und ich fing schon an, mich zu fragen, ob wir vielleicht weniger nach einer Person als vielmehr nach einer Leiche suchten. Ich stieß die Schlafzimmertür auf, und da war der Blaue Elf. Er lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Bett, schnarchte leise und machte im Schlaf Geräusche mit dem Mund. Wir entspannten uns alle ein bisschen und steckten die Waffen weg. Der Blaue Elf trug nichts außer Boxershorts, die schon ein gutes Stück über ihr Verfallsdatum hinaus waren, und ein Bettelarmband um den linken Fußknöchel. Janitscharen-Jane und Molly und ich führten eine kurze, aber lebhafte Diskussion darüber, wer ihn denn jetzt so lange berühren musste, dass man ihn umdrehen konnte. Wir spielten ein paar schnelle Durchgänge Stein, Schere, Papier, und ich verlor. Ich glaube heute noch, dass sie irgendwie gemogelt haben. Ich packte den Blauen Elfen an seinen überraschend haarigen Schultern, drehte ihn auf die andere Seite und brüllte ihm seinen Namen direkt ins Gesicht. Dann wich ich rasch zurück, denn er setzte sich unter trockenem und stoßweisem Husten kerzengerade in seinem Bett auf.