Die Bücher waren abgenutzt, die Titel kaum zu lesen. Und das, was Xjuscha lesen konnte, war zwar auf Russisch geschrieben, aber trotzdem völlig unverständlich. Ihre Mutter hatte ebenfalls solche Bücher: Helminthologie, Ethnogenese… Xju-scha seufzte und ging vom Schrank weg.
Romka hatte sich bereits an den Tisch gesetzt, die Hexe goss ihm gerade mit Wasser aus einem weißen Elektrokessel Tee auf.
»Möchtest du einen Tee?«, fragte sie freundlich. »Der ist lecker, ich mache ihn aus Waldkräutern…«
»Le-lecker«, bestätigte Romka, obwohl ihm eher daran gelegen war, einen Kringel in Honig zu stippen, als Tee zu trinken. »Ss-setz dich, Xjucha.«Xjuscha setzte sich, ließ sich höflich eine Tasse geben.
Der Tee schmeckte in der Tat gut. Die Hexe trank ebenfalls davon. Lächelnd betrachtete sie die Kinder.
»Und wir verwandeln uns auch nicht in Ziegen, wenn wir den Tee trinken?«, fragte Romka plötzlich. »Warum solltet ihr das?«, wunderte sich die Hexe.
»Weil Sie uns verzaubern«, erklärte Romka. »Weil Sie uns in Ziegen verwandeln und dann aufessen.«
Allem Anschein nach brachte er der geheimnisvollen Retterin kein uneingeschränktes Vertrauen entgegen.
»Und warum sollte ich euch erst in stinkende Ziegen verwandeln, bevor ich euch esse?«, empörte sich die Hexe. »Wenn ich euch essen wollte, dann würde ich euch auch ohne jede Verwandlung essen. Du solltest dir weniger von Rou ansehen, mein Junge!«
Romka blähte die Wangen und trat Xjuscha mit dem Fuß. »Wer ist Rou?«, flüsterte er.
Xjuscha wusste es nicht. »Trink deinen Tee und halt den Mund!«, zischte sie. »Das ist irgendein Zauberer…«
Sie verwandelten sich nicht in Ziegen, der Tee schmeckte gut, der Honig und die Kringel noch besser. Die Zauberin befragte Xjuscha nach ihren Leistungen in der Schule. Sie pflichtete ihr bei, dass die vierte Klasse einfach grauenvoll war, mit der dritten überhaupt nicht zu vergleichen. Sie schimpfte Romka aus, weil er seinen Tee schlürfte. Und sie wollte von Xjuscha wissen, seit wann Romka schon stotterte. Dann erzählte sie, dass sie keine Zauberin sei. Sie sei Botanikerin und sammle im Wald allerlei seltene Kräuter. Und natürlich wisse sie, welche Kräuter Wölfe wie das Feuer fürchteten.
»Und warum hat der Wolf gesprochen?«, fragte der misstrauische Romka.
»Er hat doch nicht gesprochen«, widersprach die Zauberin oder Botanikerin aufs heftigste. »Er hat gebellt, und euch ist es nur so vorgekommen, als habe er etwas gesagt. Meint ihr nicht auch?«
Xjuscha überlegte kurz und kam dann zu dem Schluss, es müsse in der Tat so gewesen sein.
»Ich bringe euch bis zum Waldrand«, erklärte die Frau. »Von dort aus könnt ihr das Dorf schon sehen. Kommt nicht mehr in den Wald, sonst fressen euch die Wölfe doch noch auf!«
Romka dachte nach und schlug der Frau vor, ihr bei der Kräutersuche zu helfen. Damit die Wölfe sie dabei nicht anrührten, müsste die Frau ihm ein spezielles Kraut gegen Wölfe geben. Und vorsichtshalber auch noch gegen Bären. Und vielleicht auch noch gegen Löwen, denn der Wald hier sei ganz genauso wie der in Afrika.
»Du bekommst keine Kräuter!«, widersprach die Frau streng. »Das sind seltene Kräuter, die ins Rote Buch eingetragen sind. Die darf man nicht einfach ausreißen.«
»Ich weiß, was das Rote Buch ist«, freute sich Romka. »Sagen Sie doch bitte…«
Die Frau sah auf die Uhr und schüttelte den Kopf. Unverzüglich meinte die gut erzogene Xjuscha, es sei jetzt wohl Zeit für sie zu gehen.
Für den Rückweg bekamen die Kinder eine Honigwabe. Die Frau brachte sie bis zum Waldrand, den sie so schnell erreichten, als renne der Pfad ihnen in unter den Füßen davon.
»Setzt keinen Fuß mehr in den Wald!«, schärfte die Frau ihnen noch einmal ein. »Wenn ich nicht in der Nähe bin, frisst euch der Wolf.«
Als sie den Hügel zum Dorf hinunterkletterten, blickten die Kinder mehrmals zurück.
Am Anfang stand die Frau noch da und schaute ihnen hinterher. Dann war sie verschwunden. »Es ist doch eine Hexe, oder, Xjucha?«, wollte Romka wissen.
»Sie ist Botanikerin!«, verteidigte Xjuscha die Frau. Und dann fiel ihr etwas auf. »Du stotterst nicht mehr!«
»Do-do-doch!«, alberte Romka. »Ich konnte auch früher schon ohne zu stottern sprechen, das habe ich nur zum Spaß gemacht!«
Eins
Wer hat eigentlich behauptet, frisch gemolkene Milch sei lecker?
Das geht anscheinend schon in der ersten Klasse los. Mit der Ersten Fibel, in der die ach so leckere frische Milch gepriesen wird. Und die naiven Stadtkinder glauben das dann.
Tatsächlich schmeckt frisch gemolkene Milch höchst eigenwillig. Ja, nach einem Tag im Keller, kalt geworden, da sieht die Sache schon anders aus. Dann können sie sogar die Geschlagenen trinken, die an einem Mangel an Verdauungsenzymen leiden. Von denen es im Übrigen gar nicht so wenige gibt. Nach Dafürhalten von Mütterchen Natur bräuchten erwachsene Menschen nämlich keine Milch zu trinken, sondern nur Kinder… Doch die Menschen hören selten auf die Meinung der Natur. Noch seltener tun es die Anderen.
Ich langte nach dem Krug und goss mir ein weiteres Glas ein. Kalte Milch, mit Schaum… Warum der Schaum durch das Erhitzen wohl so eklig wird, während er bei frischer Milch am besten schmeckt? Ich nahm einen großen Schluck. Genug, für Swetka und Nadjuschka musste auch noch was übrig bleiben. Im ganzen Dorf - keinem kleinen Dorf, sondern einem mit fünfzig Häusern! - gab es nur eine Kuh! Aber immerhin gab es eine… Und ich hatte den starken Verdacht, dass die alleinstehende Kuh ihren reichen Ertrag Swetlana zu verdanken hatte. Tante Sascha, eine vierzig Jahre alte Bäuerin, Besitzerin der Kuh Raika, des Ebers Borka, des Ziegenbocks Mischka und einer kleinen namenlosen Vogelschar, bildete sich grundlos etwas darauf ein. Swetlana wollte einfach, dass unsere Tochter richtige Milch trank. Deshalb blieb die Kuh von allen Krankheiten verschont. Tante Sascha hätte sie mit Sägespänen füttern können - Raika wäre nichts passiert!
Nein, richtige Milch, das ist schon was Feines. Selbst wenn die Reklamehelden mit Tetrapacks ins Dorf fahren und mit strahlendem Funkeln in den Augen immer wieder»echte Milch!«sagen. Das müssen sie. Dafür bekommen sie ihr Geld. Und auch die Bauern, die schon seit langem und unwiderruflich vergessen haben, wie man Vieh hält, haben es jetzt leichter. Sie können auf Demokraten und Städter schimpfen, brauchen aber keine Kühe zu weiden.
Nachdem ich das leere Glas abgestellt hatte, machte ich es mir in der zwischen Bäumen gespannten Hängematte bequem. Wie ein echter Bourgeois - zumindest aus Sicht der Dorfbewohner. Fährt hier in einem Luxusschlitten vor, schleppt seiner Frau Lebensmittel aus der Stadt an, lümmelt sich den lieben langen Tag mit einem Buch in der Hängematte… Während hier alle durch die Bank den ganzen Tag durch die Gegend stromern, auf der Suche nach einem Schlückchen, mit dem sie ihren Kater bekämpfen können…
»Guten Tag, Anton Sergejewitsch«, begrüßte mich - als habe er meine Gedanken gelesen - der Dorftrinker Kolja über den Zaun hinweg. Wie konnte er sich bloß meinen Namen merken? »Hatten Sie eine gute Fahrt?«
»Hallo, Kolja«, begrüßte ich ihn ganz wie ein Lebemann, indem ich nicht mal den Versuch unternahm, die Hängematte zu verlassen. Er würde das ohnehin nicht zu schätzen wissen. Denn deshalb war er nicht gekommen. »Danke, ich kann nicht klagen.«
»Sie brauchen wohl keine Hilfe, im Haushalt oder…«, fragte Kolja zaghaft. »Ich komme hier vorbei, denke, frag ich doch mal…«
Ich schloss die Augen. Zwischen meinen Lidern leuchtete blutrot die gerade im Zenit stehende Sonne hindurch.
Nichts konnte ich machen. Nicht das geringste bisschen. Eine Intervention sechsten oder siebten Grades hätte gereicht, um dem armen Kolja seinen Hang zum Alkohol auszutreiben, seine Zirrhose zu heilen und in ihm den Wunsch zu wecken, einer Arbeit nachzugehen, auf Wodka zu verzichten und seine Frau nie wieder zu vermöbeln.