Sie war jünger, als ich vermutet hatte. Noch nicht einmal zweihundert Jahre alt. Ihre Mutter war eine Bäuerin, ihr Vater unbekannt, in ihrer Familie gab es keine Anderen. Mit elf Jahren wurde das Mädchen von einem Dunklen Magier oder, wie Arina die Magier hartnäckig nannte, von einem Zauberkundigen initiiert. Einem Zugereisten aus Deutschland. Nebenbei entjungferte er sie, worauf Arina hinweisen zu müssen glaubte, wobei sie sich ein»geiler Bock«nicht verkneifen konnte. Ach - so war das! Der Deutsche hatte das Mädchen in seine Dienste genommen und es ausgebildet - in jeder Hinsicht des Wortes. Offenbar war er weder besonders klug noch besonders sensibeclass="underline" Mit drei zehn Jahren verfügte das Mädchen über so viel Kraft, dass sie in einem fairen Duell siegte und ihren Lehrer dematerialisierte. Bei dem es sich übrigens um einen Magier vierten Grades handelte. Danach fiel sie den damaligen Wachen auf. Weitere Straftaten hatte sie nicht begangen, schenkte man ihrer Erklärung Glauben. Städte mochte sie nicht, sie lebte auf dem Lande und bestritt ihren Lebensunterhalts mit kleinen Zaubereien. Nach der Revolution wollte man sie mehrmals enteignen… Die Bauern wussten, dass es sich bei ihr um eine Hexe handelte, und beschlossen irgendwann, ihr die Tscheka auf den Hals zu hetzen. Mauser gegen Magie, das muss man sich mal vorstellen! Die Magie siegte, aber das konnte natürlich nicht ewig so weitergehen. Im Jahre 1934 beschloss Arina daher… Ich sah die Hexe an. »Wirklich?«, fragte ich.
»Ich hielt Winterschlaf«, gab Arina gelassen Auskunft. »Ich wusste, dass die rote Pest lange dauern würde. Den Umständen gemäß kann der Schlaf auf sechs, achtzehn oder sechzig Jahre festgelegt werden. Wir Hexen haben gelernt, alles Mögliche zu bedenken… Sechs oder achtzehn Jahre, das reicht bei Kommunisten nicht. Deshalb schlief ich für sechzig Jahre ein.«Sie zögerte kurz. »Ich habe hier geschlafen«, gestand sie dann schließlich. »Ich habe die Hütte so gut umzäunt, wie ich konnte, damit weder ein Mensch noch ein Anderer an sie herankam…«
Nun passte alles. Eine wirre Zeit, in der Andere fast so oft wie gewöhnliche Menschen starben. So mancher ging da verloren…
»Und Sie haben niemandem gesagt, dass Sie hier schlafen?«, hakte ich nach. »Keiner Freundin…«
»Wenn ich etwas verraten hätte«, amüsierte sich Arina, »dann würden wir beide jetzt nicht miteinander reden, Lichter. »
»Warum nicht?«
Sie nickte in Richtung Schrank. »Das ist mein Reichtum. Und das ist nicht wenig.«Ich faltete die Erklärung zusammen und steckte sie in die Tasche. »Stimmt«, meinte ich. »Trotzdem habe ich hier ein seltenes Buch nicht entdeckt. »
»Welches?«, wunderte sich die Hexe. »Das Fuaran.«
»So ein großer Junge, und glaubt noch an Märchen…«, schnaubte Arina. »Dieses Buch gibt es nicht.«
»Na klar. Das Mädchen hat sich die Bezeichnung ganz allein ausgedacht.«
»Ich habe ihr Gedächtnis nicht gesäubert«, seufzte Arina. »Lohnt es sich denn nicht mehr, Gutes zu tun? »
»Wo ist das Buch?«, fragte ich scharf.
»Drittes Regal von unten, viertes Buch von links«, antwortete Arina ärgerlich. »Hast du deine Augen zu Hause vergessen?«Ich ging zum Schrank und bückte mich. Das Fuaran!
Große Goldbuchstaben auf schwarzem Leder. Ich zog das Buch heraus, sah die Hexe triumphierend an. Arina lächelte.
Ich starrte auf den Titel auf dem Einband. Fuaran. Phantasie oder Wahrheit? Das Wort Fuaran war in großer, der Rest in kleiner Schrift gedruckt. Ich schaute mir den Rücken an… Hm. Die kleinen Buchstaben waren ausgeblichen, abgeblättert.
»Ein seltenes Buch«, räumte Arina ein. »Es wurden nur dreizehn Exemplare davon gedruckt, in St. Petersburg, 1913, in der Druckanstalt Seiner Kaiserlichen Hoheit. Und zwar in einer Neumondnacht, wie es sich gehört. Ich habe keine Ahnung, wie viele davon noch existieren.«
Ob das verängstigte kleine Mädchen nur das Wort registriert hatte, das in großer Schrift geschrieben worden war? Gut möglich!
»Was geschieht jetzt mit mir?«, fragte Arina betrübt. »Welche Rechte habe ich?«
Ich seufzte, setzte mich an den Tisch und blätterte das vermeintliche Fuaran durch. Ein interessantes Buch, ohne Frage…
»Nichts geschieht mit Ihnen«, versicherte ich. »Sie haben den Kindern geholfen, die Nachtwache erkennt das an.«
»Warum sollte ich Menschen nur um des Schreckens willen erschrecken?«, murmelte die Hexe. »Damit würde ich doch nur mir selbst schaden…«
»Unter Berücksichtigung dieser Tatsache sowie der besonderen Umstände Ihres Lebens…«Ich grub in meinem Gedächtnis, rief mir die Paragraphen, Kommentare und Anmerkungen in Erinnerung. »Unter Berücksichtigung all dessen werden Sie nicht bestraft werden. Nur eine Frage… Auf welcher Kraftstufe stehen Sie?«
»Weiß ich nicht, das habe ich doch auch schon geschrieben«, antwortete Arina gelassen. »Gibt es denn eine Möglichkeit, das zumessen? »
»Aber so in etwa?«
»Als ich mich schlafen gelegt habe, bekleidete ich den ersten Rang«, teilte Arina mir nicht ohne Stolz mit. »Jetzt dürfte ich wohl außerhalb jedes Ranges sein.«
Das stimmte. Eben deshalb hatte ich auch ihre Illusion nicht durchbrechen können. »Wollen Sie nicht in der Tagwache arbeiten?«
»Was hätte ich dort verloren?«, empörte sich Arina. »Vor allem, da es Sebulon inzwischen in die obersten Etagen geschafft hat, oder?«
»Ja«, bestätigte ich. »Wundert Sie das? Glauben Sie etwa, er sei nicht stark genug dafür?«
»Kraft hat er immer genug gehabt«, knurrte Arina. »Nur opfert er seine Leute zu leicht. Seine Freundinnen… mit keiner hat er länger als zehn Jahre zusammengelebt, immer ist irgendetwas passiert… Trotzdem hüpfen diese dummen blutjungen Dinger zu ihm ins Bett. Und wie er die Ukrainer und Litauer hasst! Sobald Drecksarbeit anfällt, lässt er unter irgendeinem Vorwand eine Brigade aus der Ukraine kommen, und die Kohlen holt er auch nie selbst aus dem Feuer. Braucht er einen Prügelknaben, fällt ihm als Erstes jemand aus Litauen ein… Nie hätte ich gedacht, dass er sich mit diesen Allüren auf so einem Posten halten könnte.«Plötzlich lachte Arina. »Allerdings - einem Schlag ausweichen, das hat er offensichtlich gelernt! Tüchtig!«
»Und wie«, meinte ich bitter. »Wenn Sie also nicht die Absicht haben, innerhalb der Tagwache zu arbeiten, sondern Ihr bürgerliches Leben fortsetzen wollen, dann erhalten Sie das Recht, bestimmte magische Handlungen durchzuführen… zu persönlichen Zwecken. Pro Jahr zwölf Handlungen siebten Grades, sechs sechsten, drei fünften und eine vierten Grades. Alle zwei Jahren dürfen sie eine Handlung dritten Grades vornehmen, alle vier eine zweiten Grades.«Ich verstummte.
»Und eine Handlung ersten Grades?«, wollte Arina wissen.
»Die maximale Kraft, die Andere, die nicht in den Wachen arbeiten, einsetzen dürfen, wird durch ihr früheres Niveau bestimmt«, teilte ich ihr süffisant mit. »Wenn Sie eine Untersuchung und Registrierung als Hexe außerhalb jeder Kategorie vornehmen lassen, dürfen Sie einmal in sechzehn Jahren Magie ersten Grades einsetzen. Natürlich unter Abstimmung mit den Wachen und der Inquisition. Magie ersten Grades, das ist eine zu ernste Sache.«
Die Hexe grinste. Ein seltsames Grinsen, durch und durch altweiberhaft und unangenehm auf diesem schönen jungen Gesicht.
»Ich werde auch ohne den ersten Grad vorzüglich zurechtkommen. Soweit ich es verstehe, betrifft die Einschränkung nur Magie, die auf Menschen zielt?«
»Auf Menschen und Andere«, bestätigte ich. »Mit sich selbst und unbelebten Gegenständen können Sie machen, was Sie wollen.«
»Na immerhin«, meinte Arina. »Entschuldige übrigens, Lichter, dass ich versucht habe, dich zu täuschen. Du bist eigentlich ganz in Ordnung. Fast wie wir.«Dieses zweifelhafte Kompliment ließ mich erschauern.
»Noch eine Frage«, sagte ich. »Wer waren diese Tiermenschen?«
Arina hüllte sich in Schweigen. »Was soll das?«, fragte sie dann. »Ist das Gesetz etwa abgeschafft worden? »
»Welches Gesetz?«, versuchte ich, mich dumm zu stellen.
»Ein altes Gesetz. Dass ein Dunkler einen Dunklen nicht zu verraten braucht, ein Lichter keinen Lichten…»