Ich zog meine Schuhe aus und setzte mich neben sie. Dann fing ich zu erzählen an.
Ein paar Mal verzog Swetlana das Gesicht. Ein paar Mal lächelte sie. Als ich die Worte der Hexe, »deine Frau hat dich verzaubert«wiederholte, wurde Swetlana ganz verlegen.
»Hör auf damit!«, rief sie völlig hilflos. »Frag Geser… er sieht jeden meiner Zauber… Ich bin noch nicht mal auf den Gedanken gekommen!«
»Ich weiß«, beruhigte ich sie. »Die Hexe hat zugegeben, dass sie gelogen hat.«
»Freilich, darüber nachgedacht habe ich schon«, lachte Swetlana plötzlich. »Wer kann seinen Gedanken schon entkommen… Aber das war nur Spinnerei, nicht ernst gemeint. Als Olga und ich mal über Männer gesprochen haben… vor ewigen Zeiten…»
»Sehnst du dich nach der Wache?«, platzte ich heraus.
»Ja«, gab Swetlana zu. »Aber lass uns nicht darüber reden… Anton, du bist fabelhaft! Du bist wirklich in die dritte Schicht des Zwielichts vorgedrungen?«Ich nickte. »Erste Kategorie…«, sagte Swetlana unsicher.
»Das ist eine Nummer zu groß für mich«, widersprach ich. »Zweite. Eine solide zweite. Das ist meine Grenze. Und auch darüber werden wir nicht weiter sprechen, ja?«
»Lass uns lieber über die Hexe reden.«Swetlana lächelte. »Sie hat sich also in Winterschlaf gelegt? Von so etwas habe ich schon gehört, aber es ist unglaublich selten. Du könntest einen Artikel darüber schreiben.«
»Für wen? Für die Zeitung Argumente und Fakten? Hexe gefunden, die sechzig Jahre lang in einem Wald bei Moskau geschlafen hat?«
»Für die Informationsbroschüre der Nachtwache«, schlug Swetlana vor. »Überhaupt, wir sollten unsere eigene Zeitung herausbringen. Für Menschen müsste sie einen zweiten Text enthalten… worüber auch immer. Irgendwas Hochspezielles. Der russische Aquarianer zum Beispiel. Wie man Skalare hält und in seiner Wohnung ein Aquarium mit Wasserabfluss aufstellt.«
»Woher weißt du das alles?«, wunderte ich mich. Und erstarrte. Mir fiel wieder ein, dass ihr erster Mann, den ich nie gesehen hatte, sich für Aquarien begeisterte.
»Ach, das ist mir einfach so eingefallen«, meinte sie stirnrunzelnd. »Auf alle Fälle müsste jeder Andere, selbst der schwächste, den richtigen Text sehen können.«
»Mir schwebt bereits eine erste Überschrift vor«, sagte ich. »Für progressive Magie. Im Zweifelsfall kann das erste R in progressive auch wegfallen«Wir lächelten beide. »Zeig mir mal dieses Artefakt«, bat Swetlana.
Ich griff nach meiner Jacke und holte den in ein Taschentuch gewickelten Kamm heraus. »Ich kann darin keine Magie erkennen«, gab ich zu. Swetlana hielt den Kamm eine Zeit lang in Händen.
»Und?«, fragte ich. »Was musst du tun? Ihn über die Schulter werfen, damit dort ein Wald entsteht?«
»Du solltest sie auch gar nicht sehen«, erklärte Swetlana mit einem Lächeln. »Das liegt nicht an der Kraft, da hat die Hexe dich hinters Licht geführt. Vermutlich würde selbst Geser nichts erkennen… Das ist nichts für Männer.«
Sie führte den Kamm zum Haar und fing an, sich mit gleichmäßigen Bewegungen zu kämmen. »Stell dir mal vor…«, sagte sie beiläufig. »Es ist Sommer, heiß, du bist müde, hast die Nacht über nicht geschlafen, den ganzen Tag gearbeitet… Und dann schwimmst du im kühlen Wasser, wirst massiert, isst vorzüglich und trinkst ein Glas guten Weins. Danach geht es dir richtig gut…«
»Er macht, dass es dir besser geht?«, begriff ich. »Nimmt dir die Müdigkeit?«
»Nur bei Frauen«, lächelte Swetlana. »Er ist schon alt, dreihundert Jahre mindestens. Anscheinend ein Geschenk eines mächtigen Magiers für seine Geliebte. Bei der es sich möglicherweise sogar um eine Menschenfrau handelte…«
Sie sah mich an, ihre Augen leuchteten. »Außerdem soll er eine Frau anziehend machen«, sagte sie sanft. »Unwiderstehlich. Betörend. Funktioniert es?«
Ich sah sie eine Sekunde lang an. Dann löschte ich mit einem Blick das Nachtlicht.
Den magischen Baldachin, der alle Geräusche erstickte, hatte Swetlana selbst über uns geworfen.
Ich wachte früh auf, es war noch nicht einmal fünf Uhr morgens. Erstaunlicherweise fühlte ich mich jedoch völlig frisch, ganz wie die Herrin des magischen Kamms, die sich ordentlich gekämmt hatte. Große Taten wollte ich vollbringen. Und ein anständiges Frühstück zu mir nehmen.
Ohne jemanden zu wecken, schlich ich leise in die winzige Küche, brach mir ein paar Stücke Weißbrot ab und fand ein Päckchen mit Wurstaufschnitt. In einen großen Becher goss ich mir selbstgemachten Kwass - und mit all dieser Pracht ging ich nach draußen.
Es tagte bereits, doch über dem Dorf lag noch Stille. Niemand musste hier früh die Kühe melken, der Stall stand seit fünf Jahren leer. Überhaupt musste niemand dringend irgendwohin…
Seufzend setzte ich mich ins Gras unter einen Apfelbaum, der schon lange einfach wild wucherte und nicht mehr trug. Ich aß ein riesiges Stück Brot mit Wurst und trank den Kwass. Und, um meinem Wohlbefinden noch eins drauf zu geben, beförderte ich das Buch über das Fuaran auf magische Weise durchs Fenster. In der Hoffnung, dass meine Schwiegermutter noch schlief und das levitierende Ding nicht sah… Beim zweiten Stück Brot vertiefte ich mich in die Lektüre.
Die, ehrlich gesagt, höchst aufschlussreich war!
Zu jener Zeit, als das Fuaran geschrieben worden war, gab es all die gelehrten Ausdrücke wie»Gene«, »Mutation«samt der ganzen biologischen Schlauheit, die heutzutage die Natur der Anderen erklären soll, noch nicht. Deshalb hat das Hexenkollektiv, das das Buch verfasst hatte (insgesamt fünf Autorinnen, die nur mit Vornamen aufgezählt wurden) auf Formulierungen wie»Neigung zu Zauberkunst«, »Veränderung der Natur«und dergleichen zurückgegriffen. Zu den Autorinnen gehörte auch Arina, worüber sich die Hexe gestern jedoch in aller Bescheidenheit ausgeschwiegen hatte!
Im ersten Kapitel diskutierten die belesenen Hexen lange über die Natur der Anderen selbst. Sie gelangten zu folgendem Schluss: In jedem Menschen findet sich»eine Neigung zur Zauberei«. Das Niveau dieser»Neigung«ist bei allen unterschiedlich. Als Bezugsgröße kann man das natürliche Niveau der Magie nehmen, die über die ganze Welt ausgebreitet ist. Wenn die»Neigung«bei einem Menschen stärker ist als das Niveau der Magie in seiner Umwelt, dann wächst er zu einem ganz gewöhnlichen Menschen heran! Er wird nicht ins Zwielicht eintreten können und nur in seltenen Ausnahmen, wenn es zu Schwankungen des natürlichen magischen Niveaus kommt, wird er etwas Seltsames wahrnehmen. Wenn die»Neigung«in einem Menschen jedoch schwächer ist als in seiner Umwelt, wird er sich das Zwielicht zunutze machen können!
Das klang höchst merkwürdig. Ich selbst hatte immer angenommen, die Anderen seien Menschen mit stark entwickelten magischen Anlagen. Die Hexen vertraten genau den entgegengesetzten Standpunkt.
Als Beispiel führten sie eine komische Analogie an: Einmal angenommen, die Temperatur betrüge weltweit 36,5 °C. Dann würden die meisten Menschen, deren Körpertemperatur ja höher ist, Wärme abgeben und damit»die Natur aufheizen«. Die wenigen jedoch, deren Körpertemperatur aus irgendeinem Grund unter 36,5 °C liegen sollte, würden die Wärme aufnehmen. Wenn nun der permanente Strom von Kraft auf sie stößt, können sie diese Kraft nutzen, während die wärmeren Menschen ziellos»die Natur aufheizen«.
Eine interessante Theorie. Ich hatte mich mit verschiedenen möglichen Erklärungen zu unserer Entstehung und den Unterschieden zu den Menschen auseinander gesetzt. Auf diese war ich bislang nicht gestoßen. Sie hatte etwas Demütigendes…
Doch was spielte das für eine Rolle! Am Ergebnis änderte sie nichts! Es gab Menschen, und es gab Andere… Ich las weiter.