Das letzte Kapitel beschäftigte sich mit dem Thema»Worauf war Fuaran gestoßen?«. Die Autorinnen bezweifelten nicht, dass die Frau wirklich Erfolg gehabt hatte, hielten das Buch jedoch für unwiederbringlich verloren. Sie zogen einen traurigen Schluss: Ihre Entdeckung muss so zufällig und außergewöhnlich gewesen sein, dass sich ihre Natur nicht mehr rekonstruieren lässt.
Am meisten erstaunte mich das kurze Resümee. Falls das Fuaran heute noch existieren sollte, dann sei es die Pflicht jedes einzelnen Anderen, es zu vernichten, und zwar»aus allgemein einsichtigen Gründen, ungeachtet der außerordentlichen Versuchung und des eigenen Vorteils…«Ach, diese Dunklen! Wie sie an ihrer Macht kleben!
Ich schloss das Buch und schlenderte durch den Garten. Abermals schaute ich in den Schuppen, wagte es aber auch diesmal nicht, den Motor anzulassen.
Fuaran und ihr Buch waren real. Daran hegten die Hexen keinen Zweifel. Ich ließ die Möglichkeit einer Mystifizierung zu, glaubte im tiefsten Herzen jedoch nicht daran.
Damit gab es also theoretisch die Möglichkeit, einen Menschen in einen Anderen zu verwandeln!
Das warf auch ein völlig neues Licht auf die Ereignisse im Assol. Der Sohn von Geser und Olga war ein Mensch gewesen - wie es üblicherweise bei Anderen der Fall ist. Deshalb konnten die beiden Großen ihn nicht finden. Sobald sie ihn jedoch gefunden hatten, machten sie einen Anderen aus ihm, erst dann zogen sie das ganze Theater auf. Bei dem sie noch nicht einmal davor zurückschreckten, die Inquisition zu täuschen.
Ich legte mich in die Hängematte, griff nach meinem MD-Player. Stellte den Zufallsgenerator ein und schloss die Augen. Ich wollte mich aus der Welt ausklinken, meine Ohren mit irgendetwas Sinnlosem zustopfen… Doch ich hatte kein Glück. Es kam Piknik.
Solche Zufälle mag ich nicht! Selbst ganz gewöhnliche Menschen können die Realität beeinflussen, sie sind bloß nicht in der Lage, ihre Kraft zu lenken. Jeder Mensch kennt das: Der Autobus, der genau im richtigen Moment kommt - oder eben hartnäckig nicht kommt; ein Lied aus dem Radio, das hundertprozentig zu deinen Gedanken passt; ein Anruf von jemandem, an den du gerade gedacht hast… Es gibt übrigens eine sehr einfache Möglichkeit, um herauszubekommen, ob du nah an den Möglichkeiten eines Anderen bist. Wenn du mehrere Tage hintereinander bei einem zufälligen Blick auf die Uhr die Ziffern 11:11, 22:22 oder 00:00 siehst, heißt das, dass deine Beziehung zum Zwielicht an Bedeutung gewinnt. In diesen Tagen solltest du auf deine Vorgefühle und Ahnungen hören…
Aber das sind Lappalien, die Menschen betreffen. Für Andere ist die Beziehung mit dem Zwielicht genauso unbewusst wie für Menschen, wirkt sich aber weitaus stärker aus. Und mir gefiel überhaupt nicht, dass ausgerechnet jetzt das Lied vom Großinquisitor kam.
Wenn ich noch bei Kräften wäre, Sagte ich zu ihm: »Mein Herr, Ich weiß gar nicht, was hier vorgeht, Wo ich bin und was und wer;
So verwirrt sind alle Straßen, dass ich kaum noch gehen kann.«Doch das will er mir nicht glauben, Zieht die Daumenschraube an.
Hm. Auch ich hätte zu gern gewusst, was die Welt im Innerstenzusammenhält…
Jemand klopfte mir sanft auf die Schulter.
»Ich schlafe nicht, Sweta«, sagte ich. Und öffnete die Augen.
Der Inquisitor Edgar schüttelte den Kopf und deutete ein Lächeln an. Von seinen Lippen las ich: »Tut mir leid, Anton, aber ich bin nicht Sweta.«Trotz der Hitze trug Edgar Anzug, Krawatte und schwarze Lackschuhe, auf denen sich nicht ein einziges Staubkörnchen niedergelassen hatte. In dieser Stadtkleidung wirkte er noch nicht mal albern. Das nenn ich baltisches Blut!
»Ja, woher…!«, rief ich und wälzte mich aus der Hängematte. »Edgar?«
Edgar wartete geduldig. Ich stöpselte die Kopfhörer aus den Ohren, atmete durch. »Ich habe Urlaub«, sagte ich. »Einen Mitarbeiter der Nachtwache in der arbeitsfreien Zeit zu stören ist laut Vorschrift…«
»Anton, ich wollte Sie nur mal besuchen«, versicherte Edgar. »Haben Sie etwas dagegen?«
Edgar war mir nicht unsympathisch. Niemals würde aus ihm ein Lichter werden, doch sein Wechsel zur Inquisition hatte mir Respekt abgenötigt. Wenn Edgar mit mir reden wollte, würde ich mich jederzeit mit ihm treffen.
Aber nicht auf der Datscha, wo Sweta und Nadjuschka Urlaub machten!
»Ja«, erwiderte ich eisern. »Wenn Sie keine offizielle Verfügung haben, dann verlassen Sie mein Territorium!«
Mit einer unsagbar albernen Geste wies ich auf den schiefen Zaun. Territorium - das Wort war mir einfach so herausgerutscht.
Edgar seufzte. Und griff langsam in die Innentasche seines Jacketts.
Ich wusste, was er herausholen würde. Doch es war zu spät, um jetzt einen Rückzieher zu machen.
Die Verfügung des Moskauer Büros der Inquisition teilte mir mit, dass»wir im Rahmen einer dienstlichen Aufklärung dem Mitarbeiter der Moskauer Nachtwache Anton Gorodezki, Lichter Magier zweiten Ranges, gebieten, er möge dem Inquisitor dritten Ranges Edgar alle nur denkbare Hilfe gewähren«. Eine Verfügung der Inquisition hatte ich nie zuvor gesehen, und auch jetzt fielen mir nur Kleinigkeiten auf: Die Inquisition maß die Kraft weiterhin in den altmodischen»Rängen«, genierte sich nicht, ein Wort wie»gebieten«zu gebrauchen und nannte die eigenen Mitarbeiter selbst in offiziellen Dokumenten nur mit dem Vornamen.
Dann bemerkte ich das Wesentliche. Unten prangte der Stempel der Nachtwache und in Gesers Schrift: »Zur Kenntnis genommen, stattgegeben«. Das wurde ja immer schöner!
»Und wenn ich ablehne?«, fragte ich. »Sie müssen wissen, es gefällt mir nicht, wenn mir jemand etwas gebietet.«
Edgar runzelte die Stirn und linste zu dem Formular hinunter. »Unsere Sekretärin ist schon dreihundert Jahre alt«, erklärte er. »Nehmen Sie es nicht übel, Anton. Das ist nur ihre archaische Ausdrucksweise. So wie Rang.«
»Ist es auch Tradition, ohne Familiennamen auszukommen?«, hakte ich nach. »Nur interessehalber.«
Verständnislos sah Edgar auf das Blatt Papier. Abermals runzelte er die Stirn. »Ach, die alte Blausocke…«, meinte er ärgerlich. »Sie hat meinen Familiennamen vergessen, und mich danach zu fragen, hat der Stolz ihr verboten.«
»Das würde mir das Recht geben, die Verfügung in den Komposthaufen zu werfen.«Meine Augen suchten die Datscha nach besagtem Haufen ab, fanden ihn jedoch nicht. »Oder ins Klo. Wenn in der Anordnung kein Familienname steht, heißt das, sie ist nicht rechtskräftig. Oder etwa nicht?«Edgar hüllte sich in Schweigen.
»Und was droht mir, wenn ich die Zusammenarbeit verweigere?«, wiederholte ich meine Frage.
»Nichts Schlimmes«, meinte Edgar bedrückt. »Selbst wenn ich eine neue Verfügung bringe. Eine Beschwerde an Ihren unmittelbaren Vorgesetzten, eine Strafe nach seinem Ermessen…«
»Damit läuft das strenge Papier also auf eine einfach Bitte um Hilfe hinaus? »
»Ja.«Edgar nickte.
Eine Situation ganz nach meinem Geschmack. Die schreckliche Inquisition, mit der Neulinge einander Angst einjagen, stellte sich als zahnlose alte Blausocke heraus!