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»Ja«, sagte Arina und senkte den Kopf. »Lebt Luschka noch?«

»Leider nicht«, antwortete Edgar. »Doch ihre Aussagen sind zu Protokoll genommen worden…«

»Schade…«, murmelte Arina. Worauf sie dieses»schade«bezog, erklärte sie nicht. Aber man brauchte nicht viel Phantasie, um darauf zu kommen, dass Luisa noch einmal Glück gehabt hatte.

»Können Sie uns sagen, mit welchem Lichten Sie in Kontakt gestanden haben, was Sie zu tun versprochen und was Sie von ihm bekommen haben?«

Arina hob den Kopf und lächelte mich bitter an. »Zu dumm…«, bemerkte sie. »In was für dumme Situationen ich immer gerate… wegen Kleinigkeiten. Wie mit dem Teekessel…«

»Arina, ich bin gezwungen, Sie zwecks weiterer Befragungen mitzunehmen«, erklärte Edgar. »Im Namen der Inquisition…«

»Versuch es doch mal, Zweitrangiger«, entgegnete Arina amüsiert. Und verschwand.

»Sie ist ins Zwielicht eingetaucht!«, rief ich, während ich mich von der Wand abstieß und mit dem Blick meinen Schatten suchte. Edgar zögerte jedoch noch eine Sekunde: Er prüfte erst, ob die Hexe nicht unseren Blick abgelenkt hatte.

Wir tauchten fast gleichzeitig in die erste Schicht ein. Leicht verängstigt sah ich zu Edgar hinüber. In wen er sich wohl in der Zwielicht-Welt verwandelt hatte?

Gut, das ging. Nur minimale Veränderungen. Bloß weniger Haare.

»Tiefer!«Energisch fuchtelte ich mit der Hand. Edgar schüttelte den Kopf, hob die Hand vors Gesicht - die ihn förmlich aufzusaugen schien. Beeindruckend, diese Tricks der Inquisitoren.

In der zweiten Schicht, in der das Häuschen sich in eine Holzhütte verwandelt hatte, blieben wir stehen und sahen uns an. Arina war auch hier natürlich nirgends zu entdecken.

»Sie ist weiter in die dritte Schicht…«, flüsterte Edgar. Er hatte jetzt überhaupt keine Haare mehr, dafür einen lang gestreckten Schädel, der wie ein Entenei aussah. Sonst war alles in Ordnung, das Gesicht fast menschlich.

»Kannst du das auch?«, fragte ich.

»Einmal habe ich es schon geschafft«, antwortete Edgar ehrlich. Unser Atem wölkte auf. Obwohl es uns nicht sehr kalt vorkam, kroch ein eisiger Schauder heran…

»Ich habe es auch schon einmal geschafft«, gestand ich.

Wir drucksten herum wie selbstbewusste Schwimmer, denen plötzlich klar wird, dass der Fluss vor ihnen zu stürmisch und zu kalt ist. Keiner wollte den ersten Schritt machen. »Anton… hilfst du mir?«, fragte Edgar schließlich.

Ich nickte. Wozu hatte ich mich denn sonst ins Zwielicht gestürzt?

»Gehen wir…«, sagte der Inquisitor, wobei er konzentriert zu Boden sah.

Kurz darauf traten wir in die dritte Schicht ein, in die normalerweise nur Magier ersten Grades vordringen dürfen. Die Hexe war nirgends zu sehen.

»Ein komischer Sinn… für Humor…«, flüsterte Edgar, während er sich umsah. Die Hütte aus Zweigen war in der Tat beeindruckend. »Anton… sie hat es selbst gebaut… sie kann sich hier lange aufhalten…«

Langsam - der Raum um mich herum widersetzte sich abrupten Bewegungen - ging ich zur»Wand«. Bog die Zweige auseinander. Schaute hindurch. Das sah absolut nicht wie die Menschenwelt aus.

Am Himmel zogen gleißende Wolken - Stahlspäne, in Glyzerin getaucht. Statt der Sonne loderte weit, weit oben eine glutrote Feuerwolke, der einzige Farbfleck im grauen Höhenrauch. Um uns herum erstreckten sich bis zum Horizont jene knorrigen, flachen Bäume, aus denen die Hexe ihr Haus gebaut hatte. Doch ob das wirklich Bäume waren? So blattlos, nur mit diesem eigenartig verflochtenen Geäst…

»Anton, sie ist noch tiefer gegangen. Anton, sie steht außerhalb jeder Kategorie«, sagte Edgar hinter mir. Ich drehte mich um und sah den Magier an. Dunkelgraue Haut, ein kahler, langgezogener Schädel, eingefallene Augen… Immerhin Menschen augen. »Wie sehe ich aus?«Edgar bleckte die Zähne zu einem Lächeln. Was er nicht hätte tun sollen: Er hatte spitze kegelförmige Zähne. Wie ein Hai.

»Nicht sehr gut«, gab ich zu. »Aber vermutlich sehe ich auch nicht besser aus, oder?«

»Das ist nur äußerlich«, antwortete Edgar ungerührt. »Kannst du dich halten?«

Das konnte ich. Das zweite Abtauchen in diese Tiefe des Zwielichts fiel mir schon leichter.

»Wir müssen in die vierte Schicht gehen!«, sagte Edgar. In seinen Augen - da konnten es hundertmal die eines Menschen sein - glühte das Feuer des Fanatismus.

»Stehst du außerhalb jeder Kategorie?«, fragte ich zurück. »Edgar, mir wird schon die Rückkehr schwer fallen! »

»Wir können unsere Kräfte vereinigen, Wächter!«

»Wie?«Ich war verwirrt. Sowohl Dunkle als auch Lichte kennen den Kraftkreis. Aber das ist eine gefährliche Sache, die mindestens drei oder vier Andere erfordert… Außerdem: Wie sollten lichte und dunkle Kraft vereinigt werden?

»Lass das meine Sorge sein!«Edgar schüttelte energisch den Kopf. »Anton, sie verschwindet! Sie verschwindet in die vierte Schicht! Vertrau mir! »

»Einem Dunklen?«

»Einem Inquisitor!«, fuhr mich der Magier an. »Ich bin Inquisitor, klar? Anton, vertrau mir, ich befeh…«Edgar verstummte, um dann in freundlicherem Ton hinzuzufügen: »Ich bitte dich!«

Keine Ahnung, was mich packte. Jagdeifer? Der Wunsch, diese Hexe zu erwischen, die Tausende von Menschen in den Tod getrieben hatte? Dass ein Inquisitor mich bat?

Oder vielleicht schlicht der Wunsch, die vierte Schicht zu sehen? Die geheimsten Tiefen des Zwielichts, die auch Geser nicht oft zu Gesicht bekam und in der Swetlana niemals gewesen war?

»Was soll ich tun?«, fragte ich.

Auf Edgars Gesicht erstrahlte ein Lächeln. Er streckte mir die Hand entgegen - die Finger endeten in stumpfen, hakenförmigen Krallen. »Im Namen des Großen Vertrages, des Gleichgewichts, das ich bewahre… rufe ich das Licht und das Dunkel an… erbitte ich Kraft… im Namen des Dunkels!«

Auf seinen fordernden Blick hin streckte ich ebenfalls die Hand aus. »Im Namen des Lichts…«, sagte ich.

Das Ganze ließ sich in gewisser Weise mit einem Eid vergleichen, den ein Dunkler und ein Lichter sich schwören. Aber nur in gewisser Weise. In meiner Hand loderte kein Flammenzüngchen auf, auf Edgars ballte sich kein Krumen Dunkelheit. Alles lief ohne unser Zutun ab: Die graue, verschwommene Welt um uns herum gewann plötzlich an Schärfe. Nein, die Farben kehrten nicht zurück, wir befanden uns noch immer im Zwielicht. Schatten bildeten sich. Wie auf einem Fernsehbildschirm, bei dem man zuvor die Farbe so weit wie möglich herausgenommen hatte und auf dem man dann wieder ein buntes und kontrastreiches Bild einstellte.

»Unser Recht wird anerkannt…«, flüsterte Edgar, während er sich umsah. In seinem Gesicht spiegelte sich echtes Glück wider. »Sie erkennen unser Recht an, Anton! »

»Und wenn sie es nicht anerkannt hätten?«, hakte ich nach.

Edgar runzelte die Stirn. »Das hätte sein können… Aber schließlich haben sie es doch anerkannt, oder? Gehen wir!«

In diesem neuen, »kontrastreichen«Zwielicht fiel jede Bewegung entschieden leichter. Ich hob meinen Schatten genauso mühelos auf wie in der gewöhnlichen Welt.

Und gelangte dorthin, wo nur Magier außerhalb jeder Kategorie hindurften.

Bäume - wenn es denn Bäume waren - gab es hier nicht mehr. Die ganze Welt um uns herum war eben, flach, ganz wie im Mittelalter der Fladen der Erde, den drei Wale trugen. Kein Relief, bloß eine endlose Sandebene… Ich bückte mich, ließ eine Hand voll Sand durch meine Finger rieseln. Der war grau, wie im Zwielicht nicht anders zu erwarten. Doch in diesem Grau ließen sich die ersten Farben erkennen, ein rauchiges Perlmutt, bunte Funken, goldschimmernde Körner…