Geruch… ein seltsamer Geruch steigt von dieser Erde auf… er wühlt mich auf… zwingt mich, den Schwanz einzuziehen…
Die Frau mit dem Mädchen an der Hand steigt in einen tiefen Graben hinab…
Zurück… zurück… das ist genau die Hexe, das ist die Hexe, ihr Geruch…
»Was bedeutet das?«, fragte Swetlana. »Wenn es so dicht ist, warum habe ich die beiden dann nicht gefunden?«
»Ein Schlachtfeld«, flüsterte ich, während ich aus meinem Kopf die Bilder von dem Mädchen und dem Wolf vertrieb. »Dort verlief die Front, Sweta. Der ganze Boden ist mit Blut getränkt. Dort muss man gezielt suchen, um wenigstens etwas zu finden. Es ist, als wolltest du den Kreml auf magische Weise sondieren.«
Igor trat an uns heran, taktvoll hüstelnd. »Ist alles in Ordnung?«, fragte er. »Sollen wir im Lager auf das Verhör warten? Oder können wir das Ganze auch ruhiger angehen? In einer Woche ist meine Zeit hier zu Ende, dann melde ich mich selbst bei der Nachtwache und erkläre alles…«
Ich überlegte. Versuchte das, was ich gesehen hatte, auf einer Karte der Umgebung zu orten, die ich in mir ins Gedächtnis rief. Zwanzig Kilometer - da war die Hexe mit Nadjuschka nicht zu Fuß hingekommen. Sie hatte den Weg abgekürzt, Hexen können so was. Mit dem Auto würden wir sie nicht erwischen, denn ich hatte keinen Jeep und im ganzen Dorf gab es keinen Niwa, keinen Uas. Vielleicht käme man mit einem Traktor über solche Wege…
Natürlich könnte ich ins Zwielicht gehen. Oder noch besser: Mich in es hineinstürzen. »Sweta.«Ich sah ihr in die Augen. »Du bleibst hier. »
»Was?«Diese Worte warfen sie um.
»Die Hexe ist nicht dumm. Sie gibt uns keine drei Stunden zum Nachdenken. Sie setzt sich früher mit uns in Verbindung. Mit dir, besser gesagt, denn von mir verspricht sie sich nichts. Du bleibst hier, und wenn die Hexe sich meldet, redest du mit ihr. Sag ihr, dass ich einen Weg durch die Absperrung bahnen würde… lüg irgendwas zusammen. Ich rufe dich später und lenke sie ab.«
»Das schaffst du nicht«, sagte Swetlana. »Anton, du hast nicht die Kraft, um sie zu überwältigen! Und ich habe keine Ahnung, wie schnell ich ein Portal öffnen kann. Ich weiß nicht mal, ob ich das überhaupt kann. Ich habe das noch nie versucht, sondern nur darüber gelesen! Anton! »
»Ich bin nicht allein«, erwiderte ich. »Nicht wahr, Igor?«
Er erbleichte und schüttelte den Kopf. »He, he, Wächter… das haben wir aber nicht vereinbart.«
»Wir haben abgemacht, dass du mir hilfst«, erinnerte ich ihn. »Wie die Hilfe aussieht, haben wir nicht gesagt. Stimmt's?«
Igor schielte zu seinen Schützlingen hinüber. Runzelte die Stirn. »Du bist ein Schwein, Wächter…«, seufzte er. »Es wäre für mich einfacher, mich mit einem Magier als mit einer Hexe anzulegen! Ihre Magie kommt ausschließlich aus der Erde! Sie weiß auf Anhieb, wo sie dich am schmerzlichsten trifft…«
»Keine Angst, wir sind ja zusammen«, beruhigte ich ihn. »Zu fünft.«
Die Jungen - ich zwang mich, in ihnen ausschließlich Wolfsjungen zu sehen - wechselten Blicke. Galja stieß Petja die Faust in die Seite und flüsterte etwas.
»Was haben sie dir getan?«, fragte Igor mit erhobener Stimme. »Wächter! Das sind Kinder!«
»Junge Werwölfe«, korrigierte ich ihn. »Die beinahe Kinder gerissen hätten. Möchtest du dich von deiner Schuld freikaufen? Mit einer Verwarnung davonkommen? Dann hör auf, hier sinnlos herumzukläffen!«
»Wir haben keine Angst, Onkel Igor«, sagte plötzlich der Junge, der Petja hieß.
»Wir bleiben bei dir!«, stieß mein Namensvetter ins gleiche Horn.
Mich sahen sie gelassen an, ohne mir etwas übel zu nehmen. Anscheinend hatten sie genau das von mir erwartet. »Sie können noch gar nichts…«, sagte Igor. »Wächter…«
»Keine Bange, sie werden die Hexe ablenken. Dafür wäre ich ihnen dankbar. Mutiert jetzt!«Swetlana drehte sich um. Sagte aber kein Wort.
Wortlos fingen die Werwölfe an, sich auszuziehen. Nur das Mädchen sah sich in ihrer Scham um - und verschwand hinter einem Johannesbeerstrauch, die übrigen scherten sich nicht um uns.
Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte ich eine Bauersfrau mit einem Eimer voll Kartoffeln, die den Weg entlangkam. Vermutlich hatte sie die auf dem Feld der Kolchose gesammelt. Als sie sah, was jenseits des Zauns vor sich ging, blieb sie kurz stehen, doch ich konnte mich jetzt nicht weiter um sie kümmern. Ich war sowieso nicht in Hochform, geschweige denn, dass ich noch Kraft an eine zufällige Zeugin vergeuden konnte. Ich musste rennen lernen. Schnell rennen, damit die Werwölfe mich nicht abhängten.
»Lass mich dir helfen«, sagte Swetlana. Sie fuhr mit der Hand durch die Luft, und ich spürte, wie mein Körper angenehm aufheulte und Kraft in meine Beinmuskeln schoss. Sofort wurde mir dermaßen heiß, als sei ich in eine überheizte Sauna gekommen. Der»Lauf«, ein einfacher Zauber, der jedoch nur äußerst vorsichtig angewendet werden darf. Wenn du außer den Beinen den Herzmuskel erwischst, erleidest du einen Infarkt.
Neben mir stöhnte Igor heiser auf und krümmte sich auf allen vieren, wobei das Rückgrat, als sei es in zwei Hälften gebrochen, zum Himmel zeigte. Daher rühren alle die Märchen von der Notwendigkeit, über einen morschen Baumstumpf zu springen… Die Haut dunkelte ein, ein grellroter Ausschlag überzog sie, der sich in kleinen Klumpen zu einem feuchten, rasch wachsenden Fell aufblähte.
»Schneller!«, schrie ich. Heiß und feucht quoll mir die Luft aus dem Mund, ich meinte sogar, wie im Winter den Dampf vom meinem Atem zu sehen. Zu stehen fiel mir unglaublich schwer - mein Körper jieperte nach Bewegung. Einen Trost hatte ich: Den Werwölfen erging es genauso.
Der große Wolf fletschte die Zähne. Aus irgendeinem Grund mutierten seine Zähne als Letztes. In der Wolfsschnauze sahen die Menschenzähne komisch und zugleich schrecklich aus. Mir schoss plötzlich der seltsame Gedanke durch den Kopf, dass Werwölfe ohne Plomben und Kronen leben müssen.
Allerdings ist ihr Organismus auch wesentlich stärker als der eines Menschen. Werwölfe kriegen keine Karies.
»Ge-he-hen wir…«, bellte der Wolf vernuschelt. »Es… bre-re-rennt.«
Winselnd rannten die Wolfsjungen zum Wolf, auch sie nass, wie schweißgebadet. Eines hatte noch Menschenaugen, aber mir war nicht klar, ob es sich dabei um einen der Jungen oder um das Mädchen handelte. »Los«, sagte ich.
Und schoss davon, ohne mich noch einmal zu Swetlana umzudrehen, ohne darüber nachzudenken, ob man uns sah oder nicht. Damit würde ich mich später auseinander setzen. Oder Swetlana würde die Spuren beseitigen.
Auf den Straßen war niemand, nicht einmal die Frau mit dem Eimer. Ob Swetlana die Menschen in die Häuser getrieben hatte? Falls ja, war das nur gut. Denn es ist ein komischer Anblick: Ein Mensch, der schneller läuft, als die Natur es ihm erlaubt, und vier Wölfe, die ihm folgen.
Meine Beine trugen mich wie von selbst vorwärts. Die Siebenmeilenstiefel aus den Kindermärchen, der Schnellläufer, der der Gefährte des Barons Münchhausen war - so spiegelt sich diese kleine Magie in den Mythen der Menschen wider. Nur wird in den Märchen nicht gesagt, wie schmerzhaft der Asphalt gegen die Fußsohlen schlägt…
Innerhalb einer Minute gelangten wir zum Fluss, und über die weiche Erde zu laufen war entschieden angenehmer. Ich hielt mich mit dem Wolf auf gleicher Höhe, ein taktvoller Iwan Zarewitsch, der seinen grauen Freund nicht ermüden will. Die Jungen blieben etwas zurück, denn ihnen machte die Rennerei mehr zu schaffen. Werwölfe sind sehr stark, doch ihre Schnelligkeit wird nicht durch Magie hervorgerufen.
»Was… hast… du… dir… überlegt?«, bellte der Wolf. »Was… willst… du… tun?«Wenn ich darauf eine Antwort wüsste!
Ein Kampf zwischen Anderen, das ist eine Manipulation der Kraft, die im Zwielicht liegt. Ich bin ein Magier zweiten Grades, was nicht zu verachten ist. Arina fällt gänzlich aus dem Klassifikationsschema. Aber Arina ist eine Hexe, das ist ein Plus und ein Minus zugleich. Sie hat keinen Talisman oder Glücksbringer, keinen Trank und kein Amulett mitnehmen können… oder allenfalls etwas ganz Kleines. Dafür kann sie unmittelbar aus der Natur Kraft schöpfen. In der Stadt sinken ihre Möglichkeiten, hier steigen sie. Für ernsthafte Magie müsste sie irgendein Amulett einsetzen, das kostet Zeit… Andererseits könnte im Amulett ein Kraftvorrat von unglaublicher Stärke gespeichert sein.