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Für Igor brauchte die Hexe zehn Minuten. Zunächst vertrieb sie die brüllenden Wolfsjungen. Diese liefen zur Seite, versuchten sich in Kinder zurückzuverwandeln, was ihnen jedoch nicht gelang, worauf sie sich in die Büsche legten. Dann flüsterte sie etwas und pflückte währenddessen bald dieses, bald jenes Kraut. Die Wolfsjungen herrschte sie an, endlich Ruhe zu geben, woraufhin diese in alle Richtungen auseinander stoben und nach einer Weile, das Maul voller Zweige und Wurzeln, zurückkehrten.

Swetlana und ich sahen einander an. Ohne ein Wort zu sagen. Auch so war alles klar. Ich rauchte meine zweite Zigarette zu Ende, zerquetschte die dritte in meiner Hand und holte aus der schwarzen Stofftasche eine Tafel Schokolade. Abgesehen von den Zigaretten, der Schokolade und einem Bündel englischer Pfund - die vorausplanende Hexe! - befand sich nichts in der Tasche.

Dabei hatte ich aus irgendeinem Grund immer noch auf das Fuaran gehofft…

»Hexe!«, schrie Swetlana, als der Werwolf, nach wie vor leicht zitternd, auf die Beine kam. »Komm her!«

Arina kehrte zu uns zurück - sich graziös in den Hüften wiegend und sich ihrer Nacktheit in keiner Weise genierend. Der Werwolf legte sich ebenfalls in unserer Nähe hin. Er atmete schwer. Die Jungen gruppierten sich um ihn herum und fingen an, ihn zu belecken. Als Swetlana die Szene betrachtete, machte sie ein angewidertes Gesicht. Dann richtete sie den Blick auf Arina. »Was wirft man dir vor?«

»Auf Befehl eines nicht identifizierten Lichten vom Rezept für das Elixier abgewichen zu sein. Damit hätte ich ein gemeinsames Experiment der Inquisition, der Nacht- und der Tagwache hintertrieben.«

»Und stimmt das?«, hakte Swetlana nach.

»Ja«, gab Arina ohne Umschweife zu. »Weshalb?«

»Vom ersten Tag der Revolution an wollte ich den Roten schaden.«

»Lüg nicht.«Swetlana verzog das Gesicht. »Ob Rot, Weiß oder sonst wer, das ist dir doch ganz egal. Weshalb bist du das Risiko eingegangen?«

»Welchen Unterschied macht das denn für dich aus, Zaubermeisterin?«Arina seufzte.

»Es macht einen aus. Vor allem für dich.«

Die Hexe warf den Kopf in den Nacken. Sah erst mich an, dann Swetlana. Ihre Lider zitterten.

»Bist du traurig, Tante Arina?«, fragte Nadjuschka. Sie schielte zu ihrer Mutter hinüber und legte von sich aus die Hand vor den Mund.

»Ja«, antwortete die Hexe.

Arina wollte auf gar keinen Fall der Inquisition in die Hände fallen.

»Alle Anderen haben das Experiment unterstützt«, berichtete Arina. »Die Dunklen haben geglaubt, dass es nichts ändern würde, wenn an der Spitze des Landes - und die Brotfabrik produzierte in erster Linie für den Kreml und das Volkskommissariat - Tausende von überzeugten Kommunisten stünden. Im Gegenteil, die ganze übrige Welt würde sich gegen die Sowjetunion zusammenschließen. Die Lichten haben geglaubt, dass die UdSSR nach einem harten, aber gewonnenen Krieg gegen Deutschland - die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einem solchen Krieg kommen würde, haben die Seher schon damals klar erkannt - zu einer wirklich attraktiven Gesellschaft werden würde. Es gab da einen geheimen Bericht, wonach… kurzum, die Menschen würden den Kommunismus bis zum Jahr 1980 aufgebaut haben.«

»Und Mais würde zur Hauptnahrungsquelle werden«, schnaubte Swetlana.

»Spotte nicht, Zaubermeisterin«, wies die Hexe Sweta gelassen zurecht. »An den Mais erinnere ich mich nicht mehr. Aber eine Stadt auf dem Mond sollte bereits in den siebziger Jahren errichtet sein. Wir wollten zum Mars fliegen und außerdem… Ganz Europa sollte kommunistisch werden. Und zwar nicht durch die Knute. Heute sollte es auf der Welt nur noch eine riesige Sowjetunion und das riesige Reich der Vereinigten Staaten geben… zu denen Großbritannien, Kanada und Australien gehören sollten… Als weiteres selbstständiges Land würde noch China existieren.«

»Sind die Lichten denn von falschen Voraussetzungen ausgegangen?«, fragte ich.

»Nein.«Arina schüttelte den Kopf. »Das sind sie nicht. Sicher, Blut wäre in Strömen geflossen. Aber das, was am Ende herausgekommen wäre, hätte sie zufrieden gestellt. Es wäre weitaus besser als alle heutigen Regime… Die Lichten haben aber eins nicht bedacht: Wenn alles nach Plan gelaufen wäre, hätten die Menschen etwa jetzt von der Existenz der Anderen erfahren!«

»Verstehe«, meinte Swetlana. Nadjuschka zappelte unruhig auf ihrem Schoß herum. Das Stillsitzen reichte ihr, sie wollte zu»dem Wolf«.

»Deshalb ist dieser… nicht identifizierte Lichte…«Arina lächelte. »… der die Zukunft eben besser als jeder sonst vorhersehen konnte, zu mir gekommen. Wir haben uns ein paar Mal getroffen und die Situation durchgesprochen. Das Unglück bestand darin, dass das Experiment nicht nur Große Magier geplant hatten, die einschätzen konnten, welche Gefahren unsere Demaskierung mit sich brachte, sondern auch etliche Magier der ersten oder zweiten Kategorie… sogar einige der dritten und vierten. Das Projekt ist ausgesprochen populär gewesen… Um es offiziell zu kippen, hätte man Tausende von Anderen umfassend informieren müssen. Darauf konnten wir es nicht ankommen lassen.«

»Ich verstehe«, sagte Swetlana. Was ich von mir nicht behaupten konnte!

Wir verbergen unsere Existenz vor den Menschen, weil wir Angst haben. Letzten Endes sind wir zu wenige, und keine Magie würde uns retten, wenn eine neue»Hexenjagd«einsetzte. Aber drohte uns wirklich auch in einer guten und glücklichen Zukunft, die Arinas Worten zufolge inzwischen schon längst hätte aufgebaut sein können, noch Gefahr?

»Deshalb haben wir beschlossen, das Experiment zu sabotieren«, fuhr Arina fort. »Das erhöhte die Zahl der Opfer im Zweiten Weltkrieg, verringerte jedoch die Zahl der Opfer, die mit dem Export der Revolution nach Europa und Nordafrika verbunden war. Mehr oder weniger hielt sich das die Waage… Natürlich ist das Leben in Russland heute nicht so schön und angenehm, wie es sein sollte. Doch wer sagt, dass sich Glück in einem vollem Bauch zeigt?«

»In der Tat«, konnte ich mich nicht beherrschen zu sagen. »Jeder Lehrer aus dem Wolgagebiet oder jeder Kumpel aus der Ukraine wird dir Recht geben.«

»Glück muss man im geistigen Reichtum suchen!«, fuhr Arina mich an. »Nicht in einer Badewanne voll Seifenschaum oder in einem beheizten Klo. Dafür wissen die Menschen wenigstens nichts von den Anderen!«

Ich hüllte mich in Schweigen. Die vor uns sitzende Frau hatte keine geringe Schuld auf sich geladen. Sie gehörte vors Tribunal und in die Mangel genommen, so eine durfte man nicht mit Glacehandschuhen anfassen! Was heißt hier Stadt auf dem Mond? Gut, wir haben keine Städte auf dem Mond. Und brauchen sie auch nicht. Aber dass die normalen Städte nur noch dahinsiechen, dass die ganze Welt bis heute mit Schrecken auf uns blickt…»Du Arme«, sagte Swetlana. »Hast du sehr gelitten?«

Im ersten Moment glaubte ich, sie mache sich über Arina lustig.

Den gleichen Gedanken muss die Hexe gehabt haben. »Hast du Mitleid mit mir oder verarschst du mich?«, fragte sie. »Ich habe Mitleid«, antwortete Swetlana.

»Die Menschen tun mir nicht leid, das brauchst du nicht zu denken«, fuhr die Hexe fort. »Das Land ja, das tut mir leid. Es ist mein Land, wie auch immer es sein mag, aber es ist meins! Und so, wie alles gekommen ist, ist es besser. Das Leben geht weiter. Die Menschen werden neue Menschen zur Welt bringen, neue Städte bauen, neue Felder pflügen.«

»Du hast dich nicht wegen der Tscheka in den Winterschlaf gelegt«, sagte Swetlana plötzlich. »Und auch nicht wegen der Inquisition. Denen hättest du irgendeinen Unsinn erzählt, das weiß ich… Nein, du wolltest nicht sehen, was nach deiner Sabotage aus Russland wird.«Arina schwieg. Swetlana sah mich an. »Was sollen wir jetzt tun?«, fragte sie.

»Entscheide du«, antwortete ich, da ich nicht genau wusste, worauf die Frage abzielte. »Wohin wolltest du fliehen?«, wollte Swetlana wissen.

»Nach Sibirien«, sagte Arina gelassen. »Das ist in Russland doch so üblich: Entweder wird man nach Sibirien verbannt oder man flieht dorthin. Ich werde mir ein sauberes Dorf suchen und mich etwas abseits davon niederlassen. Für meinen Unterhalt kann ich sorgen… Ich werde einen Mann finden.«Lächelnd strich sie mit der Hand über die volle Brust. »Dann warte ich noch zwanzig Jährchen, gucke mir an, was geschieht. Und ich werde mir Gedanken darüber machen, was ich der Inquisition sage, wenn sie mich schnappt.«