»Allein kommst du nicht durch die Sperren«, murmelte Swetlana. »Und wir dürften dich kaum rauskriegen.«
»Ich… verstecke… dich…«, hüstelte der Werwolf heiser. »Bin… dir… noch… was… schuldig.«
Arina kniff die Augen zusammen. »Weil ich dich gerettet habe?«, fragte sie.
»Nein… nicht dafür…«, antwortete der Werwolf nebulös. »Ich bringe… dich durch den Wald… ins Lager… dort verstecke ich dich… später… gehst du…«
»Niemand wird irgendwohin…«, setzte ich an. Doch Swetlanas Hand berührte sanft meine Lippen - ganz so, als bringe sie Nadjuschka zum Schweigen.
»Es ist besser so, Anton. Arina sollte besser gehen. Schließlich hat sie Nadenka nicht angerührt, oder?«
Ich schüttelte den Kopf. Das war doch alles Mist. Unsinn. Quatsch. Ob die Hexe es fertig gebracht hatte, Sweta ihrem Willen zu unterwerfen? »Es ist besser so!«, wiederholte Swetlana nachdrücklich.
Dann wandte sie sich an Arina. »Hexe! Schwöre, dass du nie wieder einem Menschen oder einem Anderen das Leben nehmen wirst!«
»Einen solchen Schwur kann ich nicht leisten.«Arina schüttelte den Kopf.
»Schwöre, dass du in den nächsten hundert Jahren weder einem Menschen noch einem Anderen das Leben nimmst, sofern er dein Leben nicht bedroht… und dir keine sonstigen Möglichkeiten zu deiner Verteidigung bleiben«, sagte Swetlana nach kurzem Zögern.
»Das hört sich schon besser an!«Arina lächelte. »Man merkt gleich, dass du jetzt eine Große bist… Ein Jahrhundert zahnlos zu verbringen ist keine Freude. Trotzdem beuge ich mich. Möge das Dunkel mein Zeuge sein!«
Sie hob die Hand, auf der sich im nächsten Moment ein Klumpen Dunkelheit bildete. Die Tiermenschen, sowohl der Erwachsene wie auch die Kinder, winselten leise.
»Ich gebe dir deine Kraft zurück«, sagte Swetlana, noch bevor ich sie daran hindern konnte. Daraufhin verschwand Arina.
Ich sprang auf und stellte mich neben die ruhig dasitzende Swetlana. Ein wenig Kraft war mir noch geblieben… Für ein paar Schläge würde es reichen, nur dass die Hexe diese Schläge…
Abermals tauchte Arina vor uns auf. Bereits angezogen, anscheinend sogar gekämmt. Lächelnd.
»Ich kann dir auch schaden, ohne dich zu töten«, sagte sie gemein. »Dich lähmen oder in ein Monster verwandeln.«
»Stimmt«, pflichtete Swetlana ihr bei. »Das streite ich nicht ab. Nur, was hättest du davon?«
Einen kurzen Moment loderte in Arinas Augen eine solch durchdringende Wehmut auf, dass etwas in meiner Brust zu schmerzen begann.
»Nichts, Zaubermeisterin. Gut, lebe wohl. Gutes vergesse ich, aber ich bin mir nicht zu fein, dir zu danken… Danke, Große. Du wirst es schwer haben… jetzt. »
»Das habe ich bereits verstanden«, meinte Swetlana leise.
Arinas Blick blieb auf mir ruhen. Sie lächelte kokett. »Und auch du leb wohl, Zauberkundiger. Bedauer mich nicht, das mag ich nicht. Ach… schade, dass du deine Frau liebst…«
Sie hockte sich hin und streckte die Hand nach Nadjuschka aus. Und Swetlana griff nicht ein!
»Auf Wiedersehen, mein Mädchen«, sagte die Hexe fröhlich. »Ich bin eine böse Tante, aber dir wünsche ich alles Gute. Derjenige, der dein Schicksal schon frühzeitig bestimmt hat, war nicht dumm… O nein, das war er nicht… Vielleicht gelingt dir das, was wir nicht geschafft haben? Nimm auch du ein kleines Geschenk von mir…«Sie linste zu Swetlana hinüber. Swetlana nickte!
Arina fasste Nadjuschka bei einem ihrer kleinen Finger. »Soll ich dir Kraft wünschen?«, murmelte sie. »Davon hast du ohnehin viel. Man hat dir alles gegeben… im Übermaß… Aber du liebst Blumen, nicht wahr? Nimm von mir die Gabe, Blumen und Kräuter zu nutzen. Das schadet auch einer Lichten Zauberin nicht.«
»Auf Wiedersehen, Tante Arina«, sagte Nadjuschka leise. »Vielen Dank.«
Die Hexe sah mich noch einmal an. Ich war wie vom Donner gerührt, verwirrt, verstand nichts. Dann drehte sie sich zu den Tiermenschen um. »Was ist nun? Los, Grauer!«, rief sie.
Die Wolfsjungen stürzten hinter der Hexe und ihrem Lehrer her. Einer dieser Dreckskerle blieb sogar stehen, scharrte mit der Pfote vor einem Busch und pisste los - den Blick demonstrativ auf uns gerichtet. Nadjuschka kicherte. »Swetlana…«, flüsterte ich. »Sie gehen…»
»Sollen sie«, erwiderte sie. »Sollen sie.«Dann drehte sie sich mir zu.
»Was ist passiert?«, fragte ich, indem ich ihr in die Augen sah. »Was und wann?«
»Lass uns nach Hause gehen«, bat Swetlana. »Wir… wir müssen miteinander reden, Anton. Ein ernstes Gespräch führen.«Wie ich diese Worte hasse! Die verheißen nie etwas Gutes!
Epilog
Meine Schwiegermutter schnatterte in einem fort, während sie Nadjuschka schlafen legte. »Ach du Schwindlerin, ach du Märchentante…«
»Wir sind mit der Tante spazieren gegangen…«, beharrte meine Tochter mit müder Stimme.
»Ja, ja, spazieren gegangen…«, bestätigte meine Schwiegermutter fröhlich.
Swetlana verzog schmerzlich das Gesicht. Früher oder später müssen alle Anderen das Gedächtnis ihrer Verwandten manipulieren. Was keine angenehme Sache ist.
Natürlich haben wir die Wahl. Wir könnten uns nahe stehenden Menschen auch die Wahrheit enthüllen - oder einen Teil der Wahrheit. Doch was brächte das? »Gute Nacht, mein Töchterchen«, sagte Swetlana.
»Geht jetzt, raus hier«, schnaubte meine Schwiegermutter. »Ihr habt mir meine Kleine schon ganz müde gemacht, meine Süße…«
Wir verließen das Zimmer. Swetlana schloss die Tür fest zu. Alles war ruhig, nur die alte Uhr an der Wand tickte.
»Diese ewigen dutzi, dutzi«, murrte ich. »So kann man doch nicht mit einem Kind…«
»Mit einem Mädchen schon«, winkte Swetlana ab. »Vor allem, wenn es erst drei Jahre ist. Anton… gehen wir in den Garten.«
»Ab in den Garten, ich kann's kaum erwarten«, stimmte ich munter zu. »Gehen wir.«
Ohne ein Wort zu sagen, steuerten wir auf die Hängematte zu. Wir setzten uns nebeneinander in sie hinein, wobei ich spürte, dass Swetlana gern etwas abgerückt wäre - so schwierig das in einer Hängematte auch sein mochte. »Fang ganz von vorn an«, riet ich ihr.
»Also von Anfang an…«Swetlana seufzte. »Aber das klappt nicht. Dazu ist das Ganze zu verworren. »
»Dann erklär mir, warum du die Hexe hast laufen lassen?«
»Sie weiß zu viel, Anton. Und wenn sie vor Gericht kommt… wenn all das herauskommt…»
»Aber sie ist eine Verbrecherin!«
»Arina hat uns doch nichts getan«, brachte Swetlana so leise hervor, als wolle sie sich selbst davon überzeugen. »Ich glaube, sie ist nicht wirklich blutrünstig. Die meisten Hexen sind richtig böse, aber es gibt eben auch welche…«
»Ich geb's auf!«Ich hob die Hände. »Und die Werwölfe hat sie auch zurechtgewiesen und Nadenka hat sie nicht angerührt. Die reinste Arina Rodionowna, die Amme Puschkins! Und was ist mit dem missglückten Experiment? »
»Das hat sie doch erklärt.«
»Was hat sie erklärt? Dass es mit der Geschichte Russland in knapp hundert Jahren gewaltig bergab gegangen ist? Dass man statt einer normalen Gesellschaft eine bürokratische Diktatur aufgebaut hat… mit allen daraus resultierenden Konsequenzen?«
»Du hast es doch gehört: Am Ende hätten die Menschen von uns erfahren!«Schwer seufzend versuchte ich, meine Gedanken zu ordnen.
»Sweta… was sagst du denn da? Vor fünf Jahren bist du selbst noch ein Mensch gewesen! Außerdem bleiben wir Menschen… nur eben fortschrittlichere. Eine neue Stufe in der Evolution. Sollen die Menschen doch von uns erfahren, das ist doch nicht schlimm!«
»Wir sind nicht fortschrittlicher!«Swetlana schüttelte den Kopf. »Anton, als du mich gerufen hast… habe ich geahnt, dass die Hexe das Zwielicht observieren würde. Ich bin sofort in die fünfte Schicht gesprungen. Ich glaube, außer Geser und Olga ist noch keiner von unseren Leuten dort gewesen…«